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Prächtige Bestattung fern der Heimat – Interdisziplinäre Auswertung der frührömischen Gräber der Grabung Windisch-«Vision Mitte» 2006–2009 Jakob Baerlocher, Örni Akeret, Andreas Cueni, Sabine Deschler-Erb Mit einer Einleitung von Peter-A. Schwarz Einleitung (Peter-A. Schwarz) Anlässlich der Grossgrabung Windisch-«Vision Mitte», die zwischen 2006 und 2009 unter der Leitung von Caty Schucany durchgeführt wurde, wurden südlich der nach Augusta Raurica führenden Strasse mehrere frühkaiserseitliche Brandbestattungen entdeckt 1 (Abb. 1). Die beim Bau der sog. Zivilsiedlung-West, d.h. spätestens um 50 n.Chr., teilweise zerstörten Bestattungen gehören zu der bereits in Ausschnitten bekannten Nekropole «Alte Zürcherstrasse», in der nach Aussage von Grabinschriften (auch) Militärangehörige bestattet worden sind 2. Die neu entdeckten Bestattungen sind zwar relativ fundarm, weisen aber – wie schon während der Grabung festgestellt – eine ausgesprochen mediterrane Prägung auf: In drei Gräbern fanden sich nämlich Knochenschnitzereien, die als Verkleidungen von prächtigen Klinen anzusprechen sind. Die «Vindonissa-Professur», welche die Auswertung von Teilen der Grossgrabung Windisch-«Vision Mitte» übernehmen durfte 3, war deswegen ausgesprochen froh, mit Jakob Baerlocher einerseits einen Bearbeiter gefunden zu haben, der sowohl mit klassisch-archäologischen und provinzialrömischen als auch mit archäobio- 0 0.5 km logischen Fragestellungen und Methoden vertraut war. Ebenso sehr gefreut haben wir uns aber, dass es uns gelungen ist, mit dem Ordinarius für Klassische Archäologie an der Universität Basel, Prof. Dr. Martin A. Guggisberg, einen bestens ausgewiesenen Hauptbetreuer für diese interdisziplinäre Lizentiatsarbeit gewinnen zu können 4. Massgeblichen Anteil an der Betreuung hatten auch die drei Protagonisten der naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen, nämlich Sabine Deschler-Erb (Archäozoologie), Örni Akeret (Archäobotanik) und Andreas Cueni (Anthropologie): Sie haben nicht nur die Lizentiatsarbeit von J. Baerlocher mit ihren Forschungsergebnissen bereichert, sondern ihn während der Auswertungsarbeiten auch aktiv begeleitet. Im Namen der Autorin und der Autoren möchte ich aber auch allen anderen, die mit ihrer tatkräftigen Unterstützung zum Gelingen der hier vorerst nur auszugsweise und auf die wesentlichsten Aspekte reduzierten interdisziplinären Auswertung5 beigetragen haben, ganz herzlich danken. Es sind dies neben den bereits Erwähnten sowie dem ganzen Team der Kantonsarchäologie Aargau und den Mitarbeitenden der Integrativen und Prähistorischen Archäologie der Universität Basel (IPNA) in alphabetischer Reihenfolge: Sandra Ammann, Riccardo Bellettati, Elisabeth Bleuer, Hugo Doppler, Regine Fellmann Brogli, Hannes Flück, Judith Fuchs, Daniel Käch, Thomas Kahlau, Andrew Lawrence, Marianne Mathys, Christine Meyer-Freuler, Bela Polyvás, Caty Schucany, Jürgen Trumm und Stephan Wyss. 1 259 Campus? 2 3 658 Amphitheater Strassen (Verlauf weitgehend vermutet) römische Wasserleitung (Wasser führend) römische Wasserleitung (nicht Wasser führend) Grabgruppe, Gräberfeld Legionslager Zivilsiedlung Ausgrabungen «Vision Mitte» 2006−2009 Abb. 1: Vindonissa und die Lage der Grabungen Windisch-«Vision Mitte» 2006–2009. Jber. GPV 2012, 29 –55 4 5 Zu den Ausgrabungen V.006.1, V.006.2, V.007.2, V.007.3, V.008.2, V.008.3, V.008.4, V.009.16, V.009.20 vgl. den Grabungsbericht Schucany 2011, 47–79. Hintermann 1998, 57; 60. In diesem Zusammenhang sei namentlich auf die Auswertung der Streifenhausüberbauung entlang der Ausfallstrasse im Rahmen der laufenden Dissertation von Hannes Flück verwiesen (Arbeitstitel: An der Ausfallstrasse nach Augusta Raurica – Auswertung eines Handwerkerquartiers in der Zivilsiedlung West des Legionslagers von Vindonissa). J. Baerlocher, Frühkaiserzeitliche Gräber aus Vindonissa unter besonderer Berücksichtigung von beinernen Klinen. Lizentiatsarbeit am Departement Altertumswissenschaften der Universität Basel (Basel 2011). Die Lizentiatsarbeit von J. Baerlocher wurde im Mai 2012 auf Antrag von Prof. Dr. Martin A. Guggisberg (Referent) und Prof. Dr. Peter-A. Schwarz (Korreferent) von der Philosphisch-Historischen Fakultät der Universität Basel angenommen. Die Gesamtvorlage aller Grabbefunde und der archäo(bio)logischen Funde aus dem Bereich der Grabung Windisch-«Vision Mitte» soll im Rahmen der geplanten Dissertation von J. Baerlocher zum Thema «Frühkaiserzeitliche Gräber in Vindonissa» (Arbeitstitel) erfolgen. 29 Befunde ( Jakob Baerlocher) Es konnten mindestens zwölf, maximal sechzehn Gräber festgestellt werden, wobei aufgrund der Erhaltung lediglich elf im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden konnten6. Die Gräber liegen westlich des Legionslagers, in zwei Reihen südlich der römischen Strasse nach Augusta Raurica (Abb. 2). Obwohl auch das Gebiet nördlich der Strasse untersucht wurde, waren nur südlich davon Gräber festzustellen. Von einer Überlieferungslücke ist folglich nicht auszugehen. Möglicherweise ist dieser Umstand auf die natürliche Topografie zurückzuführen7 oder man legte aus einem anderen Grund nur südlich der Strasse Gräber an8. Allgemein kann zur Lage der Gräberstrassen in Vindonissa festgehalten werden, dass sie sich bislang nur an den West-Ost verlaufenden Strassen nach Augusta Raurica bzw. nach Aquae Helveticae nachweisen lassen, was möglicherweise mit der grösseren Bedeutung dieser Verbindungen erklärt werden kann9. Die Tatsache, dass die Gräber durch die anschliessend angelegte Zivilsiedlung überbaut wurden, ist bemerkenswert und erklärungsbedürftig. Das mutwillige Zerstören von Gräbern als loci religiosi resp. res religiosae galt als Sakrileg, wovon die zahlreichen Gesetze zu deren Schutz ein beredtes Zeugnis liefern10. Die Schwe- V.007.2 re dieses Vergehens erklärt sich durch den hohen Stellenwert, den die Pf lege des Grabes und die jährlichen Gedenkfeiern zu Ehren des Toten am Grab in der römischen Totenehrung einnahmen11. Der Vergessenheit anheimzufallen, scheint gefürchteter gewesen zu sein als der Tod selbst; dieses Bild suggerieren zumindest die Schriftquellen12. Eine Erklärungsmöglichkeit ist, dass die Gräber in jener Zeit nicht mehr sichtbar waren und man sie demnach unwissentlich überbaut hat. Dies ist jedoch eher abzulehnen, da die Zeitspanne zwischen diesen Ereignissen sehr kurz ist. Der früheste mögliche Zeitpunkt für die Anlage der Gräber ist die Gründung des augusteischen «Militärpostens» um 15 v.Chr.13 Die Gräber wurden spätestens mit dem 6 7 8 9 10 11 12 13 Schucany 2011, 54. Schucany 2011, 48. Dies evtl. aufgrund der Nutzungsaufteilung oder der Besitzverhältnisse des Bodens, vgl. Fasold 2004, 20 | S. Sommer, Kastellvicus und Kastell – Modell für die Canabae legionis?. Jber. GPV 1997, 41. Hintermann 1998, 61. Hensen 2011, 165. Stellvertretend dazu sei auf eine augusteische oder tiberische Gesetzestafel (SEG 8, 13) verwiesen, welche die sepulcri violatio unter Strafe stellt. Hensen 2011, 163f. | Schrumpf 2006, 100–107. So etwa Cic. Philipp., 9, 5, 10. Hagendorn u.a. 2003, 18. Grabungsgrenze Grabungskürzel Grab Grabgarten (hell ergänzt) Grabgarten mit Totenbett Pfostenspur Grube (hell ergänzt) 0 2 10 20 m 259 250 Strassengraben (hell ergänzt) Humus c Römis V.007.3 Grab 7 Grab 9 he Str asse Aug nach usta R aurica V.008.4 Grab 11 Grab 4 Grab 2 Grab 1 Grab 6 Grab 3 Grab 8 Grab 10 Grab 5 V.009.16 V.007.2 m Abb. 2: Windisch-«Vision Mitte». Gesamtplan der Gräber südlich der ersten römischen Strasse nach Augusta Raurica. 30 he S se n m 300 250 Rö isc s t ra Av icu 658 658 V.008.2 h ac t en Eintreffen der 21. Legion in Vindonissa, also zwischen 43 und 45 n.Chr.14, durch einen West-Ost verlaufenden Graben gestört und anschliessend durch die Zivilsiedlung überbaut15. Es ist daher wahrscheinlicher, dass die Gräber zwar noch erkennbar waren, jedoch aufgrund einhergehender Zonenänderungen bewusst aufgegeben wurden. Dies wäre nur mittels eines offiziellen und religiösen Akts denkbar, der lediglich von einem Magistraten mit priesterlichen Kompetenzen vorgenommen werden durfte16. Der Legionswechsel von der 13. zur 21. Legion, gepaart mit einer grossangelegten Neukonzipierung des gesamten Lager- resp. Siedlungsareals, vermag diese Massnahme am ehesten zu erklären17. So dürfte die persönliche Verbundenheit der 21. Legion mit den hier Bestatteten nur sehr bedingt vorhanden gewesen sein, und die geplanten baulichen Veränderungen waren wichtiger als die Bewahrung und Pf lege dieser «alten» Gräber18. In diese Richtung weisen auch Grabungsbefunde an der Alten Zürcherstrasse aus den Jahren 1963 und 1971, wo die Zerstörung von Gräbern aus der Zeit der 21. Legion durch Kiesentnahmegruben, die in die Zeit der 11. Legion datieren, festgestellt wurde19. Die Gräber der Ausgrabung «Vision Mitte» verteilen sich auf einen West-Ost verlaufenden Streifen von einer Breite von ca. 20 m und einer Länge von ca. 90 m. Trotz der Lücken, die teilweise zwischen den Gräbern liegen, lassen sich zwei Gräberreihen ausmachen. Alle Grabanlagen bestehen aus einer rechteckigen Umfriedung in Form von Gräbchen, die zwischen 0,5 m und 1,5 m breit sind (Abb. 3). Diese waren mit kiesigem Material und Keramikfragmenten verfüllt, die zum Zeitpunkt der Auf lassung der Gräber eingebracht wurden 20. Die Grösse der Grabareale schwankt zwischen 5 m 2 und 36 m 2. Die Form der Gräbchen spricht für Grabumfriedungen in Form von gepf lanzten Hecken resp. Holzzäunen 21. Teilweise sind sie zur Strasse hin unterbrochen, was an einen Zugang von dieser Seite her denken lässt (Gräber 4, 8, 11). Die eigentliche Bestattung befindet sich dann meist leicht dezentral gelegen im Innern dieser Umfriedung. Bei Grab 11 konnte im Innern der Umfriedung keine Bestattung nachgewiesen werden. Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen: Entweder lag die eigentliche Bestattung höher als die Umfriedung und wurde im Zuge der Überbauung zerstört, oder aber sie bestand aus einer oberirdisch aufgestellten Urne. Möglicherweise handelt es sich dabei auch um ein Kenotaph. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass die wenigen gesicherten Kenotaphe zu Ehren von hochstehenden Persönlichkeiten angelegt wurden und architektonisch herausragende Grabmonumente sind 22. Oberirdische Grabmarkierungen sind keine erhalten oder haben nie existiert. Lediglich bei vier Gräbern konnten eine oder mehrere Pfostengruben im Innern der Grabumfriedung festgestellt werden (Gräber 5, 7, 8, 9). Vielleicht handelt es sich dabei um einzelne Pfosten, die eine oberirdische Grabmarkierung darstellten 23 Abb. 3: Windisch-«Vision Mitte». Grab 1 mit Umfriedung und Grabgrube (V.008.4). Aufsicht. Abb. 4: Windisch-«Vision Mitte» Grab 2. Schnitt durch die Grabgrube mit Urne (Inv.-Nr. V.008.4/1810.1). 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 M. Flück, Östlich des Keltengrabens. Auswertung der Grabung Windisch-Dorfschulhaus 1986/87. Jber. GPV 2007, 42 | Hagendorn u.a. 2003, 466. Schucany 2011, 66. Hensen 2011, 167 | Berke 2000, 34f. Schucany 2011, 66. Vgl. dazu E. Flaig, Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich (Frankfurt a.M. 1992) 134, der eine Legion als abgeschlossenen Mikrokosmos beschreibt, dessen Loyalitäten und Verbindungen zur Aussenwelt auf ein Minimum reduziert waren. Von einer besonderen Rücksichtnahme auf Gräber ist also nicht unbedingt auszugehen. Im konkreten Fall hat sicher dazu beigetragen, dass die Angehörigen der Bestatteten nicht mehr da waren. Ausgrabungen Bru.63.1 und Bru.71.1. Vgl. M. Hartmann/ T. Tomasevic, Die Grabungen an der Alten Zürcherstrasse in Brugg 1963 und 1971. Jber. GPV 1971, 8. Schucany 2011, 56. Schucany 2011, 55. So konnten im Umfassungsgräbchen von Grab 11 Pfostenstellungen in regelmässigen Abständen beobachtet werden, die wohl als Reste von Zaunpfählen zu interpretieren sind. So etwa der Drususkenotaph in Mainz, vgl. H.G. Frenz, Zum Beginn des repräsentativen Steinbaus Mogontiacum. In R. Asskamp (Hrsg.), Die römische Okkupation nördlich der Alpen zur Zeit des Augustus. Kolloquium Bergkamen 1989 (Münster 1991) 85–87. Hintermann 2000, 43f. 31 oder sie sind Reste eines ephemeren Grabbaus 24. Das Fehlen von sicheren Grabmarkierungen erklärt sich vermutlich durch die spätere Überbauung der Gräber. Im Zuge dieser Massnahmen wurden wohl sämtliche Grabmarkierungen zerstört resp. abgebaut 25. Alle vorliegenden Gräber sind der Kategorie der Ustrinabestattung zuzuordnen 26. Innerhalb dieser können zwei Untertypen unterschieden werden: Brandschüttungen mit Urnen resp. Knochennest und Brandgrubengräber. Von den vorliegenden Gräbern lassen sich vier dem Typus der Brandschüttung mit Urne (Gräber 2, 4, 5, 6), eines dem Typus der Brandschüttung mit Knochennest (Grab 8) und fünf dem des Brandgrubengrabes zuordnen (Gräber 1, 3, 7, 9, 10; Abb. 4). Funde ( Jakob Baerlocher) Charakteristisch für die Gräber der Grabung Windisch«Vision Mitte» ist ihre Beigabenarmut. Als Primärbeigaben 27 fanden sich in allen Gräbern regelhaft Glasbalsamarien des Typs Isings 6 und bis auf eine Ausnahme Schuhe, wovon sich die Schuhnägel erhalten haben, so- wie weitere Nägel 28. Keramik diente nur selten als Primärbeigabe. Bis auf einzelne verbrannte Scherben lagen nur in Grab 9 ein verbrannter, einhenkliger Krug mit Horizontalrand sowie zwei Weinamphoren des Typs Camulodunum 184 vor. Als Sekundärbeigaben fanden sich wiederum in fast allen Gräbern Balsamarien des Typs Isings 6, in Grab 8 ein einhenkliger Krug mit unterschnittenem Kragenrand zusammen mit einem Schälchen des Typs Vindonissa 266 29 (Abb. 5), in Grab 3 ein grautoniger Schultertopf und eine Fischsaucenamphore des Typs Dressel 7–11, in Grab 5 eine Ölamphore des Typs Dressel 20, eine Lampe in Grab 9, zwei Münzen in Grab 7 sowie eine Terrakotta-Statuette in Form eines Huhns in Grab 6. Terra Sigillata war in keinem der Gräber vorhanden. Als Urnen wurden in zwei Fällen (Grab 2 und 6) Schultertöpfe, in Grab 4 ein Einhenkeltopf sowie in Grab 5 ein helltoniger Topf mit Trichterrand verwendet. Datierung ( Jakob Baerlocher) Die Datierung der vorliegenden Gräber gestaltete sich wegen der Beigabenarmut als schwierig. Eine Datierung mittels Seriation oder Korrespondenzanalyse war nicht möglich. Somit erfolgte die Datierung in erster Linie über die zeitliche Einordnung der einzelnen Grabbeigaben. Einen weiteren chronologischen Anhaltspunkt bietet ihre Überbauung durch die nachfolgende Zivilsiedlung, die einen terminus ante quem für die Gräber zwischen 43 und 45 n.Chr. ergibt (s. oben). 24 25 26 27 28 0 5 cm Abb. 5: Windisch-«Vision Mitte». Die Sekundärbeigaben aus Grab 8: Schälchen Typ Vindonissa 266 (Inv.-Nr. V.007.3/2685.1), einhenkliger Krug mit unterschnittenem Kragenrand (Inv.-Nr. V.007.3/2669.1–4). M. 1:2. 32 29 Berke 2011, 286 mit vergleichbaren Befunden aus Haltern. Für Grabmonumente sprechen die Funde von Architekturteilen und figürlichen Skulpturen aus der Ausgrabung Windisch«Vision Mitte», die evtl. von solchen Monumenten stammen, vgl. Schucany 2011, 57. Die typologische Einordnung der Bestattungsart folgt der Typologie von T. Bechert, Zur Terminologie provinzialrömischer Brandgräber. AKB 10, 1980, 253–258. Zu den Primärbeigaben werden im Folgenden sämtliche Beigaben gezählt, die zusammen mit dem Verstorbenen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Als Sekundärbeigaben werden alle Beigaben bezeichnet, die dem Verstorbenen nach der Kremation unverbrannt ins Grab mitgegeben wurden (Hintermann 2000, 111). Die Funktion von Nägeln in römischen Brandbestattungen wird kontrovers diskutiert. Sie werden als Bestandteile des Scheiterhaufens, Reste von Bahren oder Liegen, Überreste von mitverbrannten Truhen oder Kisten und als apotropäische Beigaben gedeutet. Zur rituellen Funktion von Nägeln vgl. S. Alfayé Villa, Nails for the Dead: A Polysemic Account of an Ancient Funerary Practice. In: R. Gordon/F.M. Simon (Hrsg.), Magical Practice in the Latin West. Papers from the International Conference held at the University of Zaragoza, 30. Sept.–1. Okt. 2005 (Leiden 2010) 427–456, bes. 450f. Eine rituelle Funktion ist im Fall der drei Scheibenkopfnägel aus der Urne von Grab 4 wahrscheinlich; da die Urne praktisch ausschliesslich mit Leichenbrand, jedoch fast keinem Brandschutt des Scheiterhaufens verfüllt war, ist eine bewusste Niederlegung wahrscheinlich. Vgl. E. Ettlinger/Ch. Simonett, Römische Keramik aus dem Schutthügel von Vindonissa. Veröff. GPV 3 (Basel 1952). Die wenigen Münzen ergeben einen terminus post quem30. Grab 9 ist aufgrund einer halbierten Münze der II. Nemausus Serie31 aus einer dazugehörigen Schicht sowie einer Münze der ersten oder zweiten Lyoner Altarserie32 aus der Überdeckung des Grabes spätaugusteisch, und somit wohl vorlagerzeitlich, zu datieren. Eine ähnliche oder geringfügig jüngere Datierung wird für zwei Gräber durch einen Schultertopf 33 bzw. ein Schälchen des Typs Vindonissa 266 34, die im um 20 n.Chr. aufgelassenen Töpferbezirk an der Scheuergasse in Windisch hergestellt wurden35, nahegelegt. Sicher tiberisch ist Grab 7 zu datieren, das einen ganzen und einen halbierten Münzmeister-As aus Rom mit Gegenstempeln wohl des Tiberius enthielt 36. Bei den übrigen Gräbern ist eine präzise Datierung wegen des Fehlens von spezifischen Beigaben nicht möglich37. Sie können lediglich grob ins erste Drittel des 1. Jh. datiert werden. Dies erschwert es, eine chronologische Entwicklung innerhalb dieser Nekropole festzustellen. Auffällig ist jedoch die Tatsache, dass die Gräber mit Resten von beinverzierten Klinen zu den ältesten Bestattungen gehören (Abb. 2). Es ist somit denkbar, dass man die jüngeren Gräber bewusst in der Nähe dieser Bestattungen anlegte38. Abb. 6: Windisch-«Vision Mitte». Verkleidungen der Klinenbeine aus Grab 3. Geflügelter Erot (Inv.-Nr. V.008.2/3855.14) und kannelierte Basen (Inv.-Nr. V.008.2/3804.189, V.008.2/3805.201, V.008.2/3832.7–8, V.008.2/3841.101, V.008.2/3872.10 –11) (von links nach rechts). Die Klinen ( Jakob Baerlocher) Von besonderer Bedeutung sind die beinernen Schnitzereien, die als Verkleidung von drei Klinen anzusprechen sind. Sie fanden sich in den Gräbern 3, 9, 10, wobei in zwei Fällen nur wenige Fragmente vorhanden waren, während aus Grab 9 über 500 grössere Fragmente stammen39. Die Knochenschnitzereien sind allesamt verbrannt und teilweise deformiert, wobei der Verbrennungsgrad je nach Fragment stark variiert. Aufgrund von typologischen Vergleichen mit rekonstruierAbb. 7: Windisch-«Vision Mitte». Verkleidungen des Bettrahmens der Kline aus Grab 9. Abgeschliffene Knochenplättchen, teilweise mit Horizontalrillen verziert (Inv.-Nr. V.007.3/1049.208). 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 Die Münzbestimmungen wurden dankenswerterweise durch H. Doppler vorgenommen. Inv.-Nr. V.007.3/1530.1. Inv.-Nr. V.007.3/1006.1. Grab 3, Inv.-Nr. V.008.2/3804.121–129, 3831.13–15, 3841.30– 66, 3855.3–8. Grab 8, Inv.-Nr. V.007.3/2685.1. Grabung. V.89.2. Den Hinweis verdanke ich Ch. Meyer-Freuler, vgl. dazu Ch. Meyer-Freuler, Vindonissa Feuerwehrmagazin. Die Untersuchungen im mittleren Bereich des Legionslagers. Veröff. GPV 15 (Brugg 1998) 19. Inv.-Nr. V.007.3/2334.1, V.007.3/2335.1. Schucany 2011, 56 mit einer dem damaligen Kenntnisstand geschuldeten leicht abweichenden Datierung. So lassen sich z.B. die Balsamarien des Typs Isings 6 nur grob in augusteische bis trajanische Zeit datieren, vgl. G. Harter, Römische Gläser des Landesmuseums Mainz (Wiesbaden 1999) 89. So kann die Kremierung auf einer solchen Kline als ein Indiz für den hohen sozialen Rang des Verstorbenen angesehen werden, vgl. Talamo 1987/88, 19. Ohne die Schlämmfunde (s. unten). Abb. 8: Windisch-«Vision Mitte». Verkleidungen des Bettrahmens der Kline aus Grab 9. Gewölbte Segmente mit Blattdekor (Inv.-Nr. V.007.3/1483.24.33.35.49.52, V.007.3/943.5, V.007.3/1484.74, V.007.3/1049.20 [Fuss], V.007.3/1049.127, V.007.3/1058.5, V.007.3/940.61 [von oben nach unten]). 33 ten Klinen in Aosta40, Cambridge41 und Rom42 ist es jedoch möglich, einen Grossteil der Fragmente zu bestimmen und ihre ursprüngliche Position an der Kline zu lokalisieren. So konnte zwischen Elementen, die zur Verkleidung der Klinenbeine gehörten (Abb. 6), und Teilen der Rahmenverzierungen, die teilweise mit lesbischen Kymatien (Abb. 7), Ranken- und Palmettenmotiven (Abb. 8) sowie figürlichem Schmuck verziert waren (Abb. 9), unterschieden werden. Ein äusserst qualitätvolles Fragment eines männlichen Profils gehört zu einem Medaillon der fulcra, der Klinenlehnen (Abb. 10). Zwischen den drei Klinen konnten teilweise erhebliche Unterschiede in der Qualität der Schnitzereien beobachtet werden43. So ist die Qualität und Ikonografie der Knochenschnitzereien der Kline aus Grab 3 praktisch identisch mit jenen des Exemplars vom Esquilin44 – evtl. ein Hinweis auf die gleiche Werkstatt. Bei den beiden Klinen aus den Gräbern 9 und 10 wirken die Schnitzereien hingegen etwas weniger sorgfältig ausgearbeitet. Die Vorläufer dieser beinverzierten römischen Klinen sind hellenistische Prunkbetten. Durch den Einf luss orientalischer Möbel, die auch mit Elfenbein verkleidet sein konnten, bildete sich im Hellenismus eine neue Klinenform aus45. Bei dieser Form waren die Beine der Kline in mehrere Glocken- und Kugelelemente gegliedert und mit figürlichem Schmuck verziert 46. Bereits im 5. Jh. v.Chr. wurde eine Lehne ( fulcrum) entwickelt, die in dieser Form mit gewissen Abwandlungen bis in die frühe Kaiserzeit Bestand hatte47. Durch die zunehmende römische Einf lussnahme im hellenistischen Osten im 2. Jh. v.Chr. gelangte dieser neue Klinentyp auch nach Italien48. Neben Elfenbein wurden bald auch Knochen als Rohmaterial für die Schnitzereien verwendet, wobei das billigere und leichter verfügbare Rohmaterial wohl Elfenbein imitieren sollte (s. unten)49. In typologischer Hinsicht lassen sich die beinverzierten Klinen der späten Republik sowie der frühen Kaiserzeit in zwei Gruppen unterteilen: Die erste Gruppe imitiert hellenistische Klinen, die mit Elfenbeinschnitzereien verziert sind, die andere solche aus Bronze50. Neuere Funde von Klinen haben aber gezeigt, dass auch Hybridformen existierten, die Stilelemente beider Gruppen aufweisen51. Die bei Weitem grösste Zahl solcher mit Bein verzierten Klinen stammt aus dem Gebiet des heutigen Italien mit einer auffälligen Konzentration in Mittelitalien52. Nördlich der Alpen sind diese Klinen äusserst selten. Neben Vindonissa, wo bis jetzt mindestens sieben solche Klinen aus Gräbern bekannt sind 53, gibt es Belege aus Gräbern im heutigen Deutschland (Birten, Haltern, Köln und Mainz) 54 und Südfrankreich, so z.B. aus der Nekropole von Saint-Lambert in Fréjus55 und aus einem Mausoleum von Cucuron (Vaucluse) 56. Bisher singulär ist ein Ensemble aus einem Grab im heutigen Slowenien, das den bis jetzt östlichsten Fundplatz nördlich der Alpen markiert 57. Was das zeitliche Vorkommen dieser Klinen betrifft, so muss man zwischen der Verwendung solcher Betten in 34 Abb. 9: Windisch-«Vision Mitte». Figürlicher Schmuck des Bettrahmens der Kline aus Grab 9. Kopf im Profil nach rechts (Inv.Nr. V.007.3/1049.217), Unterarmfragment mit Stab (Inv.-Nr. V.007.3/1324.3), Handfragment (Inv.-Nr. V.007.3/1484.73), Beinfragmente (Inv. Nr. V.007.3/1484.92, V.007.3/1483.45), Körperfragment (Inv.-Nr. V.007.3/941.26). 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 R. Mollo Mezzena, La ricostruzione del letto funerario di Aosta. Considerazione e problematiche. Bolletino della Sopraintendenza per i Beni e la Attività Culturali della Valle d’Aosta 2, 2005, 144–156. Nicholls 1979, 1–32. Talamo 1987/88, 17–102. So auch bei den Klinen aus Haltern, vgl. Berke 2011, 287. Talamo 1987/88, 41–48 Abb. 32. Faust 1989, 25. Bianchi 2010, 41 | Faust 1989, 24. Faust 1989, 20f. Bianchi 2010, 42. Bianchi 2010, 44. C. Letta, Due letti funerari in osso dal centro italico-romano delle Valle d’Amplero (Abruzzo). Mon. Ant. 3,3, 1984, 82. Bianchi 2010, 52. Bianchi 2010, 45–48, mit der aktuellsten Zusammenstellung der Fundstellen von beinverzierten Klinen. Holliger/Holliger 1993, 21–52 mit der Vorlage von vier Klinen. Berke 2011, 289 | Witteyer 2000, 328. I. Béraud/C. Gébara, Les lits funéraires de la nécropole galloromaine des Saint-Lambert (Fréjus). Rev. Arch. Narbonnaise 19, 1986, 183–210. Béal 1991, 285. S.D. Jelenko/S. Groh, Ein frühkaiserzeitlicher Grabbau in der Südnekropole des norischen Vicus von Colatio, Slowenien. AKB 36, 2006, 405–422. Funerär- und Alltagskontexten unterscheiden. In Ersteren waren diese vom 2. Jh. v.Chr. bis in die Mitte des 2. Jh. n.Chr. in Gebrauch58. Aufgrund der Tatsache, dass sich Klinen ab augusteischer Zeit in den Gräbern Roms und Ostias nicht mehr nachweisen lassen, ist anzunehmen, dass solche Betten bei Begräbnissen dort in dieser Zeit aus der Mode kamen59. In den Provinzen lässt sich diese Bestattungssitte jedoch noch bis in die Mitte des 2. Jh. beobachten. In Alltagskontexten kam bereits in der frühen Kaiserzeit ein neuer Klinentyp auf, der bis zum Ende des 1. Jh. diese Klinenform ablöste60. Im Funerärkontext wurden die Toten auf beinverzierten Klinen aufgebahrt, zum Scheiterhaufen transportiert und anschliessend auf ihnen kremiert. Dies ist sowohl in den antiken Schriftquellen61 als auch auf Darstellungen dokumentiert62. Aufgrund der Fundumstände wird in der Forschung die Frage diskutiert, ob die beinverzierten Klinen primär Möbelstücke63 waren oder ob sie eigens für Bestattungen64 hergestellt wurden. Gerade bei Klinen aus Gräbern in den Nordwestprovinzen impliziert die Ansprache als «Totenbetten», dass es bei den Fundplätzen Werkstätten oder Händler gab, die solche Klinen im Angebot hatten. Dies scheint jedoch in Haltern, Mainz oder Vindonissa nicht der Fall gewesen zu sein. Die Produktion solcher beinverzierter Klinen in den Nordwestprovinzen im Allgemeinen sowie in Vindonissa im Speziellen ist unwahrscheinlich, zumal bis heute zwar zahlreiche Beinwerkstätten nachgewiesen werden konnten, aber keine, in denen man Klinen herstellte (s. unten S. 38) 65. Diese Klinen dürften vielmehr in Italien resp. dem Mittelmeerraum produziert worden sein66. Es stellt sich folglich die Frage, wie solche Klinen in Fundplätze wie Vindonissa gelangt sind. Aufgrund der grossen Distanzen und der damit verbundenen Transportdauer war es unmöglich, solche Klinen erst zum Zeitpunkt des Todes zu erwerben und in nützlicher Frist in den Norden zu schaffen. Es ist deshalb am wahrscheinlichsten, dass diese Klinen in erster Linie prachtvolle Möbelstücke waren, die eine Letztverwendung im funerären Kontext erfuhren. Bezeichnenderweise fanden sich Gräber mit Resten von beinverzierten Klinen in den Nordwestprovinzen ausschliesslich an militärischen Standorten. Plätze also, bei denen man zu dieser Zeit von aus Italien stammenden Personen ausgehen kann, in deren Hausrat – zumindest in jenem der Offiziere – man auch beinverzierte Klinen vermuten kann67. Abb. 10: Windisch-«Vision Mitte». Fragment eines der fulcrumMedaillons der Kline aus Grab 9. Kopf im Profil nach links (Inv.-Nr. V.007.3/1049.216, V.007.3/1165.5). die systematische Anwendung der Schlämm-Methode damals noch in weiter Ferne lag, wurden nur die von blossem Auge erkennbaren Fragmente eingesammelt. Bei der Grabung Windisch-«Vision Mitte» wurden nun für archäobiologische Untersuchungen zahlreiche Erd58 59 60 61 62 Rohmaterial und Technologie der Klinen 63 (Sabine Deschler-Erb) 65 Bereits in den 20-er, 50-er und 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts kamen in Gräbern der Nekropolen BruggAlte Zürcherstrasse und Brugg-Aarauerstrasse beinerne Klinenteile zum Vorschein (s. oben) 68. Auch sie waren wie die hier besprochenen Neufunde auf Scheiterhaufen mitverbrannt worden, wo sie durch die hohen Temperaturen in unzählige kleine Fragmente zerbarsten. Da 64 66 67 68 Berke 2011, 290 | von Hesberg 1998, 25f. Heinzelmann 1998, 46. Faust 1992, 107. Cass. Dio. 56, 34, 1–2 und 4 | Properz, 2, 13, 19–21 | Suet., Caes. 84. So z.B. das Relief von Amiternum, vgl. Holliger/Holliger 1993, Abb. 2. Berke 2011, 291 | Bianchi 2000, 125–127 | Faust 1989, 18. Béal 1991, 310 | Holliger/Holliger 1993, 36. J. Obmann, Zur Kline im Grabbrauch und ihrem archäologischen Nachweis in Gräbern der römischen Nordwestprovinzen. In: Fasold u.a. 1998, 422. Bianchi 2010, 60 | Faust 1992, 102. Die Funde aus dem Schutthügel zeigen, dass es zumindest hölzerne Klinen im Lager gab, vgl. R. Fellmann, Römische Kleinfunde aus Holz aus dem Legionslager Vindonissa. Veröff. GPV 20 (Brugg 2009) 86f. Th. Eckinger, Knochenschnitzereien aus Gräbern von Vindonissa. ASA 4, 1929, 241–256 | Holliger/Holliger 1993, 21–52. 35 proben aus den Gräbern und deren Umgebung entnommen und geschlämmt. Dies hatte den unerwarteten Nebeneffekt, dass auch unzählige Klein- und Kleinstfragmente der beinernen Klinenverzierungen geborgen wurden, welche die Anzahl der von Hand Aufgelesenen deutlich übersteigen. Sie liessen sich unter dem Binokular aufgrund ihrer Bearbeitungsspuren relativ gut von menschlichen Überresten und tierischen Speisebeigaben unterscheiden. Rohmaterial Eine Rohmaterialbestimmung konnte nur bei den grösseren Fragmenten mit einem gewissen Erfolg durchgeführt werden. Für Grab 9 sind dies 473 Fragmente, für Grab 3 lediglich deren 11 (Abb. 11). Es wurde dazu die für die Untersuchung der Beinartefakte von Augusta Raurica entwickelte Bestimmungsmethode angewendet 69. Dabei bietet der durchwegs hohe Verbrennungsgrad, der zu einer mehr oder weniger starken Verformung der Objekte führen kann, zusätzliche Probleme. Bei den untersuchten Klinenfragmenten war lediglich der billige und schlechter zu bearbeitende Werkstoff Knochen festzustellen. Dies ist auch bei den Klinen von Cambridge, Cremona und Aquinum70 der Fall und erstaunt gerade bei denjenigen von Vindonissa, da diese sich unbestritten in Gräbern der höchsten Gesellschaftsschicht fanden. Nach Sueton (De vita Caesarum, Caesar 84) wurde nun aber Caesar auf einer Kline aus Elfenbein verbrannt. War Elfenbein also den Obersten Roms vorbehalten, während man in den Provinzen mit den billigeren Knochenimitationen vorlieb nehmen musste? Möglicherweise wurde auch Caesar nur auf einer einfacheren Knochenkline verbrannt, wobei der Trauergesellschaft die Imitation aber nicht auffiel. Eine artliche Bestimmung war bei nur ganz wenigen Fragmenten möglich (Abb. 11) und ergab fast durchwegs Rinderknochen. In zwei Fällen konnte Equide nicht ausgeschlossen werden; angesichts der Dominanz der Rinderknochen scheint aber auch in diesen Fällen Rind plausibler. Rinderknochen wurden allgemein weitaus am häufigsten von römischen Beinschnitzern verarbeitet 71. Das Rind war nicht nur in den Nordwestprovinzen, sondern auch in vielen Siedlungen des italischen Stammlandes ein wichtiges oder sogar das wichtigste Schlachttier 72. Deshalb war es für die Beinschnitzer kein Problem, dieses Rohmaterial zu beschaffen 73. Trotzdem lässt sich unter den Artefakten einiger Fundstellen der römischen Schweiz ein relativ häufigeres Vorkommen von Pferdeknochen als unter den sonstigen Tierknochenabfällen feststellen. Dies dürfte mit der relativ geringen Körpergrösse und somit der verwertbaren Knochensubstanz der lokalen Rinder zu erklären sein74. Das Problem zu klein gewachsener Rinder bestand in der Region, aus der die Klinen von Vindonissa stammten, offensichtlich nicht, weshalb man auch nicht auf Pferdeknochen ausweichen musste. 36 Grab 9 Grab 3 Rind Humerus (?) Rind Femur (?) Rind Radius (?) Rind Metacarpus Rind Metatarsus (?) Rind Metapodium (?) Rind Röhrenknochen Röhrenknochen Röhrenknochen (?) Röhrenknochen, Equide (?) Knochen 2 6 1 1 14 2 100 249 5 2 91 3473 Total 473 11 1 7 Abb. 11: Windisch-«Vision Mitte». Das Rohmaterial der Klinenfragmente aus Grab 9 und 3. Bei der Herstellung der Klinen kamen lediglich Röhrenknochen zum Einsatz75 (Abb. 11), in erster Linie die von Natur aus gerade gewachsenen Femora und Metatarsen. Diese Skelettteile wurden auch in Augusta Raurica bevorzugt verarbeitet 76. Bei den Klinen aus Vindonissa wählte man folglich kein spezielles Rohmaterial, sondern es wurde das für die römische Beinschnitzerei allgemein übliche Material verarbeitet. Bei der Untersuchung der Augster Scharniere, die hauptsächlich ins 1. Jh. n.Chr. datieren, war die massive Stärke der Knochenkompakta im Vergleich zu derjenigen der gleichzeitigen Speiseabfälle aufgefallen. Dieser zunächst nur optische Eindruck konnte durch metrische Untersuchungen bestätigt werden. Die in Augst gefundenen Scharniere waren also nicht lokal hergestellt worden, sondern gelangten als Fertigprodukte 69 70 71 72 73 74 75 76 Deschler-Erb 1998, 16–68. Nicholls 1979 | Bianchi 2000 | Carcieri/Montanelli 2008. Vgl. die Zusammenstellung in Deschler-Erb 1998, 69–71. Aus diesem Grund nehmen Carcieri/Montanelli (2008, 74) auch für die Kline von Aquinum an, dass sie hauptsächlich aus Rinderknochen hergestellt ist. Bei den Funden von Cremona ist nur von «osso tubulare» die Rede, vgl. Bianchi 2000. M. MacKinnon, High on the Hog: Linking Zooarchaeological, Literary, and Artistic Data for Pig Breeds in Roman Italy. Am. Journal Arch. 105, 2001, 654–655, Tab. 2. Zur Zusammenarbeit von Produktionszweigen, die Rohstoffe vom Rind verarbeiteten, vgl. S. Deschler-Erb, La contribution de l’archéobiologie à l’étude de l’artisanat romain. In: M. Polfer (Hrsg.), Artisanat et économie romaine: Italie et provinces occidentales de l’Empire. Actes du 3ème colloque international d’Erpeldange (Luxembourg) sur l’artisanat romain, 14.–16. Okt. 2004. Monogr. instrumentum 32 (Montagnac 2005) 33f. S. Deschler-Erb, Miser sur le bon cheval: le rôle des équidés dans la tabletterie romaine. In: P. Chardron-Picault (Hrsg.), Aspects de l’artisanat en milieu urbain: Gaule et Occident romain. Actes du colloque international d’Autun, 20.–22. Sept. 2007. Rev. Arch. Est et Centre-Est, 28e suppl. (Dijon 2010) 383–390. Bei der Kline von Cambridge wurde die Verwendung von Pferdeschulterblatt vermutet, wobei aber nur die Objektgrösse zu dieser Mutmassung führte, vgl. Nicholls 1979, 1. Deschler-Erb 1998, 72 Abb. 126. mm 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 max min x Augusta Raurica, Augusta Raurica, Vindonissa, Grab 9, unbearbeitete Scharniere aus Möbelteile aus Metatarsen (n=18) Metatarsen (n=104) Metatarsen (n=14) Beobachtungen zur Technologie Von blossem Auge und unter dem Binokular konnten Feil-, Raspel-, Dreh-, Messer- und Kerbspuren mit dreieckigem Querschnitt sowie Politur festgestellt werden. Sie finden sich häufig auf der Aussen- und der Innenseite der Objekte. Mit Ausnahme der Kerbspuren80 (Abb. 13) lassen sich alle diese Spuren auch bei den Beinartefakten aus Augusta Raurica beobachten, allerdings in unterschiedlicher Häufigkeit: Während dort die meisten Objekte Politur und Feilspuren aufweisen81, treten bei den Klinen von Vindonissa am häufigsten Messerspuren und Politur auf (Abb. 13). Messer wurden hauptsächlich zum Anbringen von Kerbverzierungen oder beim freien Schnitzen von plastischen Ornamenten eingesetzt, was vor allem beim spröden Knochen einiges an Geduld und Geschick verlangte. Viele Objekte aus Augusta Raurica sind im Gegensatz zu den Klinen aus Vindonissa unverziert und nur relativ grob mit der Feile überarbeitet. Hier zeigt sich die grosse Diskrepanz bei der Qualität von durchschnittlichen Siedlungsfunden und den Klinen aus den Gräbern. Bei etwa 10 % der Objekte, ausschliesslich Beinteilen, kam eine Drehbank zum Einsatz (Abb. 13). Das ist im Vergleich zu den zeitgleichen Funden vom Magdalensberg, die gegen 60 % Drehspuren aufweisen, sehr wenig 82 und kann teilweise typologisch erklärt werden: 77 78 79 Deschler-Erb 1998, 80f. Deschler-Erb 1998, 81. In Mittelitalien war die durchschnittliche Widerristhöhe (123,2 cm) bereits in republikanischer Zeit deutlich höher (M. MacKinnon, Production and Consumption of Animals in Roman Italy: Integrating the Zooarchaeological and Textual Evidence. Journal Roman Arch., Suppl. Ser. number 54 [Portsmouth Rhode Island 2004] 85 Tab. 24) als zum Beispiel in der LT D1 Siedlung von Basel-Gasfabrik (110,8 cm) (G. Breuer/ A. Rehazek/B. Stopp, Grössenveränderungen des Hausrindes. Feile, Politur Feilspuren Raspel Messer Messer, Politur Dreieckige Kerbspuren Drehspuren, Politur Politur unbearbeitet/evtl. unbearb. Total 3 9 2 110 135 49 177 485 Spuren innen (n) Abb. 12: Windisch-«Vision Mitte». Vergleich der Kompaktadicke der Metatarsen der Kline von Vindonissa-Grab 9 mit den Scharnieren und unbearbeiteten Metatarsen aus Augusta Raurica (x = Mittelwert). Spuren aussen (n) hierher77. Wir führten diese Untersuchungsmethode auch bei den Klinenteilen aus Vindonissa durch, um so allenfalls Informationen über die Herkunft des hier verwendeten Rohmaterials und somit auch der Klinen zu gewinnen. Bei 14 Metatarsen konnte die Breite des Kompaktknochens gemessen werden. Dem Ergebnis wurde wie bei den Scharnieren aus Augusta Raurica jeweils 5 mm abgearbeitetes Material hinzugezählt 78. Der daraus berechnete Mittelwert liegt in etwa zwischen demjenigen der Scharniere und der Speiseabfälle aus Augst und Kaiseraugst (Abb. 12). Der Minimalwert ist hingegen gleich hoch wie bei den Scharnieren aus Augusta Raurica und damit höher als bei den Speiseabfällen dieser Fundstelle. Auch wenn die Datenlage relativ gering ist, lässt dies vermuten, dass die Klinen nicht aus lokalen Werkstätten stammen, sondern aus einem Gebiet mit fortgeschrittener Rindzucht importiert wurden, wahrscheinlich Italien79. Darauf deuten auch die stilistischen Beobachtungen hin (s. oben). 385 3 1 17 2 76 484 Abb. 13: Windisch-«Vision Mitte». Bearbeitungsspuren der Klinenfragmente von Grab 9 und 3. 80 81 82 Osteometrische Untersuchungen grosser Fundserien aus der Nordschweiz von der Spätlatènezeit bis ins Frühmittelalter am Beispiel von Basel, Augst [Augusta Raurica] und SchleitheimBrüel. JbAK 20, 1999, 217, Anm. 59) oder in der spätlatènebis frühkaiserzeitlichen Siedlung auf dem Basler Münsterhügel (115,4 cm) (B. Stopp, Archäozoologische Auswertung der Grabungen FH 1978/13 und TEW 1978/26 auf dem Basler Münsterhügel. In: E. Deschler-Erb, Der Basler Münsterhügel am Übergang von spätkeltischer zu römischer Zeit. Materialhefte zur Archäologie in Basel 22A [Basel 2011] Tab.16 unter http://www.archaeobasel.ch/vermitteln/publikation/index.php). Schon in Norditalien sind die Werte in republikanischer Zeit geringer (114,4 cm) als in Mittelitalien, wo auch nach schriftlichen Quellen besonders schöne Rinder gezüchtet wurden (M. MacKinnon, Cattle ‘Breed’ Variation and Improvement in Roman Italy: Connecting the Zooarchaeological and Ancient Textual Evidence. World Archaeology 42, 2010, 55–73), weshalb der Ursprung der grossen Rinder am ehesten in Mittelitalien zu suchen ist. Für die Frage nach der Herkunft der dickwandigen Rinderröhrenknochen müsste allerdings die Kompakta der dort gefundenen Knochen vermessen werden. Sie finden sich hingegen bei der Liege aus Aquinum (Carcieri/ Montanelli 2008). Deschler-Erb 1998, 104 Abb. 166. Gostencˇ nik 2005, 314. 37 Unter dem Fundmaterial vom Magdalensberg machen die Schreibgriffel und die Spielsteine, die durchwegs auf der Drehbank gearbeitet sind, mehr als die Hälfte der Fundobjekte aus83. Das Arbeiten mit der Drehbank ist sehr effizient und erlaubt eine fast industrielle Massenherstellung von Beinobjekten, was bei alltäglichen Gebrauchsobjekten wie Griffeln oder Spielsteinen Sinn macht. Die Bearbeitung der Knochenoberf läche mit dem Messer ist – wie bereits erwähnt – deutlich aufwändiger. Der Faktor Zeit und somit auch die Kosten spielten folglich bei der Herstellung der Klinen keine Rolle. Fehlende Bohrlöcher lassen darauf schliessen, dass die einzelnen Beinelemente nicht mit metallenen Nieten am hölzernen Klinengestell befestigt wurden, sondern dass sie aufgeklebt waren84. Dies setzt eine grössere Menge an Leim voraus. Im Prinzip können sowohl pf lanzliche als auch tierische Leime zum Einsatz gekommen sein. Bei der Verwendung von Knochenleim hätte man diesen in der Werkstatt aus Knochenabfällen selber herstellen können; spezielle Kenntnisse waren dazu nicht notwendig85. den Klinen aus Vindonissa können andere Techniken zur Vergrösserung der Flächen beobachtet werden: Beim fulcrum-Medaillon der Kline aus Grab 9 (Abb. 10) verdoppelte man die Kompakta durch Aufeinanderkleben zweier Knochenschichten, was das Herausarbeiten stark plastischer Reliefs ermöglicht. Für breite Objekte wie die runden Scheiben klebte man Platten mittels abgeschrägter Flächen aneinander. Die Verleimung muss so gut gehalten haben, dass sie auch den Kräften bei der Bearbeitung auf einer Drehbank standhielt. Für gewisse Verzierungselemente war eine konkave Biegung der Knochenoberf läche erwünscht, weshalb in diesen Fällen die Markhöhle als Dekorationsf läche genutzt wurde. Insgesamt ist festzustellen, dass die verschiedenen figürlichen und ornamentalen Verzierungen kunstvoll und sehr plastisch gearbeitet sowie exakt zusammengefügt sind. Es wurden auch spezielle Techniken eingesetzt. Dies spricht für hoch spezialisierte Handwerker, wie sie im römischen Gebiet nördlich der Alpen auch später nicht nachzuweisen sind. Die metrischen Analysen des Rohmaterials lassen ebenfalls eine Herkunft dieser Klinen aus Italien vermuten. Nur hier dürfte der Markt für Werkstätten, die solche Luxusobjekte herstellten, gross genug gewesen sein. Chaîne opératoire Aussagen zum Holzgestell und zu dessen Herstellung sind nicht möglich, da sich höchstens kleinere Holzkohlestücke erhalten haben, die nicht von den Brennholzresten des Scheiterhaufens zu unterscheiden sind86. Obschon die Knochenfragmente durch die hohen Brenntemperaturen verzogen sind, lässt sich heute noch feststellen, dass die einzelnen Elemente passgenau auf das Holzgestell gearbeitet waren. Dieses wurde folglich entweder von den Beinschnitzern selber hergestellt oder stand während der Herstellung der Verzierungselemente fertig in der Werkstatt. Zumindest einige von ihnen wiesen zu diesem Zeitpunkt noch keine Verzierungen auf, denn bei einigen Passstücken laufen die Rillen- und Leistenverzierungen nahtlos über die einzelnen Teile hinweg (Abb. 6). Die weniger als 1 mm dicken Plättchen (Abb. 7), die hauptsächlich aus den Schlämmproben stammen, muss man zuerst auf einer Seite überarbeitet, dann auf den hölzernen Rahmen aufgeklebt und schliesslich mit der Feile zugeschliffen haben. Anders lassen sich die beidseitigen Bearbeitungsspuren an den hauchdünnen Teilen kaum erklären. Dabei bestand die Gefahr, dass mit der Feile ungewollt auch der Holzrahmen angeschliffen wurde87. Die Anwendung dieser Methode bezeugt wiederum das Geschick und Können der Klinenhersteller. Eine Möglichkeit, die beschränkte Fläche der Röhrenknochen zu vergrössern, ist das Zusammennieten bzw. -kleben einzelner Teile. Dies war beim Fundmaterial aus Augusta Raurica nur in wenigen Fällen zu beobachten, so bei Kämmen, Kästchen oder den Schwertortbändern88. Bei Ersteren wurden die einzelnen Teile rechtwinklig aneinandergefügt, bei Letzteren der rückwärtige Teil in eine Führungsrille eingeschoben. Bei 38 Tierknochenfunde ohne Bearbeitungsspuren (Sabine Deschler-Erb) Die erste und bislang einzige archäozoologische Untersuchung zu Brandgräbern in Vindonissa bezieht sich auf den Südfriedhof (25/30 –150 n.Chr.) 89. Diese Arbeit stellt die Vergleichsbasis für die hier vorgelegte Tierknochenuntersuchung zu den Gräbern von Windisch«Vision Mitte» dar. Von Vorteil ist dabei, dass auf beiden Grabungen Sedimente geschlämmt wurden. Die beiden Bestattungsplätze waren jedoch nicht zeitgleich in Benutzung. Die Grabanlagen und archäologischen Beigaben der älteren Gräber von Windisch-«Vision Mitte» 83 84 85 86 87 88 89 Gostencˇ nik 2005, 361 Diagr. 1. Dies war auch bei der Kline von Cambridge der Fall, vgl. Nicholls 1979, 1. Vgl. S. Deschler-Erb, Leimsiederei- und Räuchereiwarenabfälle des 3. Jahrhunderts aus dem Bereich zwischen Frauenthermen und Theater von Augusta Raurica. JbAK 27, 2006, 343. Eine Bestimmung der Holzkohlereste wurde bislang nicht durchgeführt. Ein Nachweis von speziellen Hölzern (z.B. Ebenholz) könnte auf Reste des hölzernen Klinengestells hindeuten. Mündliche Mitteilung Astrid Dingeldey, Neckarsteinach D, Drechslermeisterin und Spezialistin für die Nachbildung römischer Beinartefakte. Deschler-Erb 1998, Taf. 29 (Kämme); 46, 4067–4071 (Kästchen) und 43, 4022–4027 (Ortbänder). Grabungen V.85.2, V.93.4, V.94.4, V.96.6, V.97.8, V.98.3. Vgl. Hintermann 2000 | Veszeli 2000. 1 199 200 22 22 4 2 17 1 1 8 25 169 194 7 1 20 1 36 1 6 3 86 6 6 0 3 1 0 0 34 0 0 7 0 0 0 3 0 0 0 0 0 54 7 4 1 34 3 3 3 3 2 1 3 8 6 60 1 6 6 7 6 0 49 0 0 0 3 0 0 6 0 0 0 1 0 0 0 0 1 66 6 1 49 2 4 3 1 6 2 2 1 1 73 5 1 0 6 0 0 0 6 0 0 5 0 0 0 0 0 0 0 0 0 18 18 9 416 0 5 0 5 73 1 100 2 1 15 3 3 1 5 1 4 43 7 0 155 2 159 9 2 23 302 8 3 141 1 0 0 46 0 0 2 7 1 173 11 575 9 2 28 375 108 5 156 4 3 1 99 1 4 45 14 1 1 23 702 238 940 8 1 14 6 1 6 411 6 1 5 2 1 3 72 96 2 11 1 1 33 1 4 42 5 verbrannte 1 unverbrannte 66 80 7 1 22 433 0 0 8 5 116 188 3 99 5 3 20 31 0 1 0 1 0 2 35 1 0 4 0 2 44 5 0 0 Total Grab 8 verbrannte unverbrannte Total Grab 7 verbrannte unverbrannte Total Grab 6 verbrannte Total Grab 5 unverbrannte 1 verbrannte Total Grab 4 verbrannte 79 1 Total 1 1 34 9 1 12 Total verbrannte 0 0 0 0 0 0 0 3 3 2 12 1 9 36 1 8 0 8 0 1 0 20 1 0 36 0 0 0 5 0 0 0 0 0 Total unverbrannte 31 2 1 1 4 Total Grab 10 33 0 0 2 19 1 61 unverbrannte 5 2 17 61 0 1 9 36 1 0 31 1 0 0 5 0 0 0 7 0 unverbrannte 2 1 4 verbrannte 11 Total Grab 3 11 0 4 0 0 0 5 unverbrannte verbrannte Total Grab 1 39 1 6 3 6 79 Total Grab 2 39 1 6 3 0 6 79 2 0 33 0 0 0 30 0 0 0 0 0 Total Grab 9 Total 1 verbrannte unverbrannte Sus domesticus Ovis a./Capra h. indet. indet. Gr. Hase indet. Gr. Rind/Hirsch indet. Gr. Schaf indet. Gr. Schwein Gallus gallus Aves indet Passeriformes Aves indet Arvicolidae Muridae Soricidae Kleinsäuger indet. Perca fluviatilis Cyprinidae Pisces indet. Amphibia Gastropoda 5 1 1 8 753 861 1614 Abb. 14: Windisch-«Vision Mitte». Tierartentabelle. Taphonomie lassen zudem auf Bestattungen einer sozial besser gestellten Bevölkerungsschicht schliessen als beim jüngeren Südfriedhof. Bei Unterschieden zwischen den Tierbeigaben in den beiden Friedhöfen sind daher sowohl chronologische als auch soziale Faktoren in die Überlegungen miteinzubeziehen. Material und Methode Die Funde stammen durchwegs aus Schlämmproben (organische und anorganische 4-mm- und 1-mm-Fraktion). Die Trennung zwischen Tier- und Menschenknochen erfolgte durch die Archäozoologin. Bei einer Vielzahl von Knochenfragmenten, hauptsächlich Spongiosateilen, war eine Unterscheidung nicht möglich. Da unter den sicher bestimmbaren Knochen die menschlichen Überreste bei Weitem überwiegen, wurden die unbestimmbaren Knochenfragmente dem Anthropologen übergeben. Während im Südfriedhof von Vindonissa nur etwas mehr als die Hälfte der Gräber Tierknochen enthielten90, ist dies in allen zehn untersuchten Gräbern der Grabung «Vision Mitte» (Abb. 14) der Fall. Insgesamt liegen 1614 verbrannte und unverbrannte Fragmente mit einem Gesamtgewicht von 328,5 g vor. Das Durchschnittsgewicht beträgt lediglich 0,2 g. Die Fundmenge ist in den einzelnen Gräbern sehr unterschiedlich (Abb. 14): Mit Abstand am fundreichsten ist Grab 9 (940 Fragmente), das auch die meisten Klinenteile enthielt und bei dem es sich um das einzige Frauengrab der Nekropole handelt (s. unten). In Grab 6 hingegen fanden sich nur sechs Fragmente. Fast in allen Gräbern treten unverbrannte und verbrannte Tierknochen auf (Abb. 14) (s. oben Primär- und Sekundärbeigaben). In den meisten Gräbern ist ihr Verhältnis zueinander ausgeglichen; nur in Grab 9 kommen deutlich mehr unverbrannte Knochen vor. Mit Ausnahme der Gastropoden sind bei den anderen vertretenen Tiergruppen, also Gross- und Kleinsäugern, Vögeln, Fischen und Amphibien, beide Erhaltungszustände zu beobachten. Allerdings sind verbrannte Fischreste relativ selten. Dies hängt damit zusammen, dass vor allem Fischschuppen höhere Brenntemperaturen kaum überstehen. Aufgrund taphonomischer Gründe ist es also schwer zu sagen, ob die Tierartenanteile in beiden Erhaltungsgruppen ursprünglich gleich waren. Da alle Proben direkt aus den Grabgruben oder dem zugehörigen Grabgärtchen stammen, ist immerhin anzunehmen, dass alle Knochen in Zusammenhang mit den Bestattungsritualen stehen. Tierartenspektrum Die meisten Knochen stammen von Grosssäugern (55 % bzw. 66 %); von einer gewissen Bedeutung sind nur noch die Vögel (17 % bzw. 15 %). Kleinsäuger, Fische und Amphibien weisen Anteilswerte von unter 10 % auf (Abb. 15). Wie auch bei anderen römischen Brandgräbern der näheren und weiteren Umgebung 91 unterscheidet sich das Spektrum der bestimmbaren Tierarten deutlich von 90 91 Veszeli 2000, 169 Abb. 194. Vgl. Veszeli 2000, 172 Abb. 201. 39 70 subadult 60 adult senil 50 n 40 % 30 perinatal 20 verbrannte 10 juvenil-subadult unverbrannte Su s do m O es v is To tic a. ta /C us lu ap nb ra es h. t. Sä G ug al e lu Pa s g r al ss l u er ifo s rm To Av es e ta l K s in de le in sä t u To ge ta lF r isc Am he ph ib ia 0 infantil-juvenil infantil Abb. 15: Windisch-«Vision Mitte». Anteile (n%) der verbrannten und unverbrannten Knochen bei den einzelnen Tierarten. Abb. 16: Windisch-«Vision Mitte». Gesamtaltersverteilung (n%) der Hausschweine. demjenigen der Siedlungsfunde: Unter den Haussäugern ist das Hausschwein dominant und quasi in allen Gräbern vertreten. Schaf/Ziege kommt nur in den Gräbern 1 bis 4 sowie 8 und 9 und jeweils nur mit wenigen Fragmenten vor. Dies entspricht in etwa den Verhältnissen, die auch bei den Tierknochen aus den Gräbern des Südfriedhofs festzustellen sind92. Das Hausrind, das in römischem Siedlungszusammenhang meist die wichtigste Tierart darstellt, kommt in den Gräbern von Windisch-«Vision Mitte» nicht vor. Auch im Südfriedhof ist diese Tierart nur mit drei Fragmenten vertreten93. Etwas häufiger waren Rinder hingegen im Nordwestgräberfeld von Augusta Raurica94 sowie im Gräberfeld von Avenches-En Chaplix95. Der Konsum von Rindf leisch wird allgemein in nordalpinen römischen Siedlungen mit einer einheimisch geprägten oder sozial niedriger gestellten Bevölkerung in Zusammenhang gesehen96. Das Fehlen von Rinderknochen in den frühen Gräbern Windisch-«Vision Mitte» spricht für den starken Romanisierungsgrad und den hohen sozialen Status der hier bestatteten Personen. Unter den Haustieren ist nur noch das Huhn von einer gewissen Bedeutung. Auch es stellt einen sozialen Indikator dar. Geht man davon aus, dass sich unter den meisten unbestimmbaren Vogelknochen Haushühner verbergen97, ist diese Tierart mit Ausnahme von Grab 6 in allen Gräbern vertreten. Im Südfriedhof kommen hingegen nur in 32 von 123 Gräbern Hühner- bzw. Vogelknochen vor 98. Die Stetigkeit der Hühner in den frührömischen «Vision Mitte»-Gräbern ist auffallend, weil sie in den gleichzeitigen Siedlungskomplexen kaum vertreten sind 99. Nur in Grab 9 fanden sich fünf Fragmente von unbestimmbaren Singvögeln. Im Südfriedhof fanden sich gar keine Singvögel 100. Ihr Fund spricht für eine hochstehende, mediterran geprägte Nahrung, wie sie z.B. in den Küchen der Insula 30 von Augusta Raurica 101 oder Windisch-Römerblick102 zubereitet wurde. Ihr Nach- weis passt folglich zum Fund der Kline in diesem Grab. Unter den Fischüberresten finden sich mit einem Flussbarsch und vier unbestimmbaren Cypriniden nur einheimische Fische103. Importware, wie etwa die Mittel meermakrele, liess sich hier im Gegensatz zum Südfriedhof 104 nicht nachweisen. Chronologische Gründe spielen dabei keine Rolle, denn die Mittelmeermakrele ist bereits in der 2. Holzbauperiode (1. Jz. v.Chr.) der Grabung Windisch-Breite belegt 105. Bei allen Überresten von Kleinsäugern, also Arvicolidae (Wühlmäuse), Muridae (echte Mäuse) und Soricidae (Spitzmäuse), dürfte es sich um natürliche Einträge handeln. Sie könnten durch herumliegende Abfälle von Kultmahlzeiten angelockt worden sein und hier ihr Ende gefunden haben. Ebenfalls natürliche Einträge dürften die Überreste vom Amphibien und Gastropoden darstellen. 40 Veszeli 2000, 171 Abb. 197. Veszeli 2000, 171 Abb. 197. 94 Pfäff li u.a. 2004, 111–178, bes. 147, Tab. 6. 95 Olive 1999, 137 Abb. 153. 96 Schibler/Furger 1988, 156–177. 97 So auch Olive 1999, 137. 98 Veszeli 2000, 172. 99 Schibler/Furger 1988, 26 Abb. 24. 100 Veszeli 2000, 172. 101 Schibler/Furger 1988, 90 Tab. 39. 102 Grabung V.002.11. Häberle unpubl. 103 Bestimmung Heide Hüster Plogmann, IPNA Universität Basel. 104 Veszeli 2000, 172 Abb. 200. 105 Grabungen V.96.8, V.97.1, V.98.1. H. Hüster Plogmann, Von Leckerbissen und Schädlingen – Die Untersuchungen der Kleintierreste. In: Hagendorn u.a. 2003, 231–243, bes. 233f. 92 93 Total Kopf Vertebra cervicalis Vertebra thoracalis Vertebra lumbalis Vertebra indet. Costa Total Rumpf Scapula Humerus Pelvis Femur 2 2 0 9 2 10 23 2 2 2 6 5 0 1 1 1 1 0 1 1 1 0 0 0 0 13 2 1 1 0 2 3 7 23 35 1 3 1 1 1 1 1 1 1 3 3 1 1 2 2 3 1 2 1 4 0 0 1 1 0 1 1 1 3 0 1 1 1 2 1 1 0 1 0 0 0 1 0 16 5 0 39 11 19 2 9 1 7 1 6 1 2 80 14 1 1 3 1 1 6 2 3 3 8 3 1 3 1 8 1 0 0 Total Autopodium Röhrenknochen indet. indet. Total 0 3 1 3 1 2 3 1 0 1 2 1 1 2 4 2 1 1 1 1 Total 2 1 3 15 3 2 1 1 1 1 1 0 2 Total Stylopodium Radius Ulna Tibia Total Zygopodium Carpalia Calcaneus Mt IV Hauptstrahl-Mp unbest. Nebenstrahl-Mp unbest. Sesamoid Phal. 1 ant./post. Phal. 2 ant./post. Phal. 3 ant./post. Nebenstrahlphal. 1 Nebenstrahlphal. 2 3 3 6 1 0 1 Grab 10 3 9 1 10 10 Grab 9 Total Grab 7 Total Grab 6 Total unverbrannt Total Grab 5 unverbrannt Total unverbrannt Total 5 Grab 4 unverbrannt 1 1 Grab 3 Total Cranium Mandibula loser Unterkieferzahn Unter- /Oberkieferzahn Grab 2 Total Grab 1 Total Schwein 1 1 1 21 2 2 13 9 48 74 2 14 2 6 24 6 10 6 22 8 1 1 3 2 2 2 2 5 2 1 29 1 2 173 Abb. 17: Windisch-«Vision Mitte». Skelettteiltabelle der Hausschweine. Altersspektrum Bei den Schweineknochen fällt der geringe Anteil an ausgewachsenen Individuen auf (Abb. 16): Mehr als die Hälfte der Tiere war in einem infantilen Stadium oder jünger, also maximal 6 Monate alt. Ein Drittel der Knochen stammt von ausgesprochen jungen Individuen. Da die hohe Hitze zu einem Schwund der Knochensubstanz führte, ist es kaum feststellbar, ob es sich um fötale oder neonate Ferkel handelt, weshalb wir ihr Alter als perinatal bezeichnen. Sie kommen hauptsächlich in Grab 3 und 9 vor, wo sich auch die Klinenfrag- mente fanden. Im Südfriedhof liessen sich auch in den Schlämmrückständen keine Überreste von perinatalen Schweinen fassen. Dies könnte ebenfalls auf eine mediterran geprägte Sitte hindeuten. Skelettteilspektrum Unter den verbrannten wie unverbrannten Fragmenten (Abb. 17) sowie den perinatalen wie älteren Individuen sind alle Skelettteile des Hausschweins vertreten. Die perinatalen Tiere dürften vollständig auf den Be41 stattungsplatz gelangt sein. Bei den wenigen Elementen älterer Tiere fällt eine deutliche Übervertretung der Vorderextremitäten auf. Man hat folglich von den älteren Schweinen sowohl ganze Tiere als auch Fleischteile, vorzugsweise Vorderschinken, zur Bestattung mitgebracht. Unter den Hühnerknochen sind Schädel, Brustbein und Becken nicht vertreten. Dies kann damit erklärt werden, dass die Plattenknochen durch das Feuer weitgehend zerstört werden. Es könnten also durchaus ganze Hühner auf den Scheiterhaufen gelegt worden sein. Es fanden sich auch zahlreiche Fragmente von Hühnereierschalen. Sie kommen vereinzelt in Grab 5, 7 und 8 sowie konzentriert in Grab 9 vor. Nur drei Fragmente sind gräulich gefärbt, was eindeutig auf eine Feuereinwirkung zurückzuführen ist. Die übrigen Fragmente weisen eine weisse bis beige Färbung auf (Abb. 18). Es stellte sich nun die Frage, ob es sich dabei um kalzinierte oder unverbrannte Fragmente handelt 106, also ob man die Eier mit auf den Scheiterhaufen legte oder ob es sich um Überreste der Kultmahlzeiten handelt. Zur Lösung dieser Frage wurden durch Christine Pümpin, Geoarchäologie IPNA, Verbrennungsversuche mit rezenten braunen und weissen Eierschalen durchgeführt. Nach einem vierstündigen Brand bei 350 ° zeigten sich verschiedene gef leckte Färbungen von beige über grau zu schwarz. Bei 700 ° waren alle Eierschalen weiss und hatten eine poröse, brüchige Struktur, aufgrund derer sie eine Bodenlagerung und eine Bergung wohl kaum überstehen würden. Bei den erhalten gebliebenen weiss bis beige gefärbten Fragmenten der Ausgrabung «Vision Mitte» dürfte es sich folglich um unverbrannte Eierschalen handeln, was aber nicht heisst, dass keine Eier auf den Scheiterhaufen gelegt wurden. opfern108. Zur Bestattung wurden noch weitere Tiere bzw. ihr Fleisch sowie Eier mitgebracht. Eier spielten als Totenmahl, das den Toten die Lebenskraft sichern sollte, bei vielen Völkern eine Rolle, so auch bei Griechen und Römern109. Die archäozoologischen Resultate zu den Gräbern von Windisch-«Vision Mitte» zeigen also insgesamt den hohen sozialen Status der hier Bestatteten sowie ihren engen Bezug zum italischen Kernland auf. Folgerungen zu den Tierknochenfunden Die Pf lanzenfunde (Örni Akeret) Die tierischen Speisereste der zehn untersuchten Gräber sprechen, wie auch die übrigen Beigaben, für Bestattungen von Angehörigen einer reichen Oberschicht. Dies zeigt sich durch den Nachweis von Ferkeln, Hühnern, wenigen Schafen/Ziegen, aber auch Singvögeln und Eiern. Daneben fanden sich auch wenige Überreste von einheimischen Fischarten. Von allen diesen Tierarten kommen sowohl verbrannte wie unverbrannte Überreste vor, die in einem direkten Zusammenhang mit dem Bestattungsritual stehen. Wie kann man sich diese vorstellen? Schriftliche Quellen berichten, dass es vor der Verbrennung des Leichnams üblich war, ein Schwein zu opfern (sog. silicernium). Die Eingeweide wurden Ceres geweiht, der Göttin der Fruchtbarkeit, aber auch des Todes; einen Teil des Fleisches legte man auf den Scheiterhaufen, der Rest wurde vor Ort von der familia funesta verspeist 107. In Vindonissa deuten nun die perinatalen Schweineknochen auf Opfer von trächtigen Tieren hin, was durchaus plausibel ist, denn auch zu anderen Anlässen wie den feriae Sementivae oder den Fordicidia war es üblich, der Ceres eine trächtige Sau zu Die Beigabe von pf lanzlichen Nahrungsmitteln bei Brandbestattungen war in den römischen Provinzen und wohl auch in Italien eine verbreitete Sitte. Gräber wurden somit schon vielfach als Quelle für archäobotanische Untersuchungen genutzt; zum Thema exis- 42 Abb. 18: Windisch-«Vision Mitte». Eierschalenfragmente aus Grab 9. Im Gegensatz zur artlichen Bestimmung (z.B. C.A. Keepax, Avian Egg-shell from Archaeological Sites. Journal Arch. Science 8, 1981, 315–335) waren Untersuchungen zum Erhaltungszustand von Eierschalen bislang nicht von Forschungsinteresse. 107 H. Harich-Schwarzbauer, Tod und Bestattung in der römischen Literatur. Thesaurus cultus et rituum antiquorum (ThesCRA) 6, Fondation pour le Lexicon iconographicum mythologiae classicae (LIMC) (Los Angeles 2011) 172–182, bes.179. 108 Der Neue Pauly, BrillOnline, http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/ceres-e230420?s. num=0&s.f.s2_parent=s.f.book.der-neue-pauly&s.q=ceres (Zugriff am 15.3.2013). 109 H. Bächtold-Stäubli/E. Hoffmann Krayer, Handbuch des deutschen Aberglaubens, Digitale Version 1986, Bd. 2, 615f. 106 2 Brandschüttung mit Urne 1 Brandschüttung Grabnummer Struktur V.008.4 32/33 22.142 22.143 1975 1977 1979 42 6 5 6.80 4.50 6.30 Grabung Feld Neg.-Pos. Position FK Probennummer (VLB) Volumen wassergesättigt (Liter) 10.61 1808 16 6.50 4 Brandschüttung mit Urne 3 Brandschüttung V.008.4 V.008.2 10 144/154 10.64 154.55 67.15 144.62 10.67 10.67 10.67 10.67 10.67 67.12 1991 1992 1993 1994 1995 3851 3856 2737 26 27 32 8 33 28 19 11 0.50 0.15 0.15 0.04 0.35 6.80 7.40 2.00 V.008.2 67 67.15 67.13 2760 4 5.30 67.15 67.13 2738 9 7.80 67.15 67.13 2758 17 5.20 67.15 67.13 2759 18 4.60 5 Brandschüttung mit Urne 67.14 67.13 4003 31 0.20 67.14 67.13 4004 29 0.40 67.14 46.4 67.13 46.5 4005 3607 2 30 0.39 8.30 7 Brandschutt 6 Brandschüttung mit Urne 8 Brandschüt- Verfüllung tung mit eines Knochennest Grabes V.008.2 V.007.3 V.007.3 V.007.3 46 48/49 44 702 49.19 44.44 46.4 46.4 46.13 46.13 46.13 46.13 46.13 46.13 702.26 702.27 702.37 49.20 44.46 46.5 46.5 46.14 46.14 46.14 46.14 46.14 46.14 3608 3640 4006 4007 4008 4009 4010 4011 1474 2713 2714 2715 2716 2717 2332 2589 2641 2656 2654 14 39 48 38 25 23 24 40 41 51 47 20 3 43 37 36 35 34 1 4.00 3.70 0.80 0.32 0.02 0.32 0.28 0.35 1.00 0.35 0.35 0.60 0.35 0.50 k. A. k. A. 10.60 2.40 3.00 Brandgrubengrab 1049 44 0.50 1049 45 5.00 52.76 52.19 1049 1057 46 50 7.50 5.00 1058 49 7.00 9 Entspricht wohl 52.19 V.007.3 52 52.76 52.21 1491 1489 15 22 26.80 5.60 Amphorenring Unterlage des Grabes Grabgartenhag 52.76 52.20 1490 1551 21 13 k. A. 0.50 52.76 52.23 1493 1550 10 7 10.60 8.20 52.62 52.68 1476 12 6.10 Wissenschaftlicher Name Deutscher Name Resttyp Erhaltung Kulturpflanzen: Getreide Cerealia Hordeum distichon/vulgare Hordeum distichon/vulgare (bespelzt) Panicum miliaceum Secale cereale Triticum dicoccon Triticum dicoccon/spelta Triticum monococcum Getreide Gerste Spelzgerste Rispenhirse Roggen Emmer Emmer/Dinkel Einkorn Korn Korn Korn Korn Korn Ährchengabel Korn Korn verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt 24 18 5 11 1 4 2 3 4 4 1 . . . . . 1 5 . . . . . . 5 6 . . . . . . . . . 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . 1 . . . . . . 1 . 1 . . . . . . 2 . 2 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . 1 . 4 . . . . . . . . . . 2 . . . . . . 1 . . . . . . . 1 4 . . . . . . . . . . . . . . . 2 . 1 . 1 . . . . . . . . . . . 2 . . 3 . . 1 . 1 . . . . . . . . . . . . . . . Kulturpflanzen: Hülsenfrüchte Lens culinaris Vicia faba Linse Ackerbohne Same Same verkohlt verkohlt 22 674 . 31 . 1 . 10 12 199 . 10 2 1 . . . . 1 . . . . . . 2 . 1 . . . 3 . 3 . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 . . . . . . . 5 3 162 . 17 . 3 1 44 . 78 . 2 . . . 1 3 95 . . . . Kulturpflanzen: Obst/Nüsse Ficus carica Ficus carica Juglans regia Malus domestica Punica granatum Feige Feige Walnuss Kultur-Apfelbaum Granatapfel Frucht Fruchtfleisch Frucht Same Same verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt 9 9 1 1 9 . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . 9 . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frucht Frucht Frucht Same Frucht verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt 7 9 8 1 1 . 8 . . 1 1 . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . 2 1 . . . 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 . . . . . . . . . . . . . . Gehölze: Bäume/Sträucher (Wildobst/Nüsse) Corylus avellana Hasel Fragaria sp. Erdbeere Prunus spinosa Schlehe Prunus spinosa Schlehe Rosa sp. Rose Total Gehölze: Bäume/Sträucher Quercus sp. Eiche Knospe verkohlt 1 . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grünland Plantago lanceolata Prunella sp. Rumex acetosella s.l. Spitz-Wegerich Brunelle Kleiner Sauerampfer Same Frucht Frucht verkohlt verkohlt verkohlt 9 8 46 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 . 9 . . . . . . . . . . . . . 20 . . 24 . . 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unkräuter Agrostemma githago Chenopodium album Chenopodium polyspermum Convolvulus arvensis Erodium cicutarium Fallopia convolvulus Fallopia convolvulus Galium aparine Polygonum aviculare aggr. Polygonum lapathifolium s.l. Polygonum persicaria Setaria verticillata/viridis Sherardia arvensis Vicia hirsuta/tetrasperma Kornrade Weisser Gänsefuss Vielsamiger Gänsefuss Acker-Winde Gemeiner Reiherschnabel Windenknöterich Windenknöterich Kletten-Labkraut Vogel-Knöterich Ampferblättriger Knöterich Pfirsichblättriger Knöterich Quirlige/grüne Borstenhirse Ackerröte Rauhhaarige/viersamige Wicke Same Same Same Same Same Frucht Frucht Frucht Frucht Frucht Frucht Frucht Frucht Same verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt mineralisiert verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt 2 4 1 1 1 1 3 4 1065 6 11 3 1 1 . . . . . . . . 2 . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 . . . . . . . 1 . . . . . 7 . . . . . . . . . . . . . 2 . . . . . . . . . . . . . 7 . . . . . . . . . . . 1 . 121 . 5 3 . . . . . . . . 1 . 177 . . . . . . . . 1 1 . . 2 549 1 2 . . . 1 . . . . . . . 59 . . . . . . . . . . . . . 95 . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1 . . . . . . . . . 1 1 1 . . . . . . . . . . . . . 2 . 1 . . . . . . . . . . . 11 . . . . . . 4 . . . . . . 8 . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 . 1 . . . . . . . . . . . 1 . . . . . 1 . . . . 1 . . . . . . . . ohne Zuordnung Ajuga sp. Asteraceae Asteraceae Avena sp. Bromus sp. Carex sp. Centaurea sp. Cichorium sp. Cyperaceae Indeterminata Panicoideae Poa sp. Poaceae Poaceae Prunus sp. Rumex sp. Setaria sp. Stachys sp. Trifoliae Viciae (gross) Viciae (klein) Viola sp. Günsel Körbchenblütler Körbchenblütler Hafer Trespe Segge Flockenblume Endivie/Wegwarte/Zichorie Sauergräser Unbestimmte Hirseartige Süssgräser Rispengras Süssgräser Süssgräser Steinobst Ampfer Borstenhirse Ziest Kleeartige Schmetterlingsblütler Wickenartige Schm.-blütler (gr.) Wickenartige Schm.-blütler (kl.) Veilchen Frucht Frucht Frucht Korn Frucht Frucht Frucht Frucht Frucht Knospe Frucht Frucht Frucht Nodium Frucht Frucht Frucht Frucht Same Same Same Same verkohlt mineralisiert verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt mineralisiert verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt verkohlt 9 2 4 1 4 2 1 1 8 14 1 4 17 1 1 11 1 1 7 3029 2 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 . . . . . . . . . . . 5 . . . . . . . . . 461 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . 4 . . . . . . . . 1 . . . 1 1 . . . . . . 1 . . . . . 1 . . . 2 . 4 . . . . . . . 3 . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . 1 1 . . . . 4 . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 . . . . . . . . . . 1 . . 2 . . 1 . . . . 8 . . 2 . . . 23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 . . 4 . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . 789 . . . . . 1 . . . . . . . . . . . 8 . . . 303 . . . . . . 1 . . . . . . . . . . . . 1 . 66 . . . . . . . . . . . 1 . . . . . 1 . . . 181 . . . . . . . . . . . 4 . . . . . . . . . 459 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 . . . 1 . . . . . . 599 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . . . . 1 . . . . . . . . . . . . . . . 5109 81 11.9 11 2.4 25 4.0 682 104.9 29 58.0 3 20.0 0 0.0 0 0.0 9 25.7 2 0.3 0 0.0 5 2.5 9 1.2 13 2.5 12 2.6 8 1.5 6 30.0 6 15.0 7 17.9 19 2.3 0 0.0 1 0.3 5 6.3 2 6.3 0 0.0 0 0.0 0 0.0 0 0.0 11 11.0 0 0.0 2 5.7 9 15.0 2 5.7 9 18.0 136 k.A. 238 k.A. 571 53.9 995 199.0 356 47.5 80 16.0 240 34.3 557 20.8 11 2.0 7 k.A. 1 2.0 719 67.8 2 0.2 4 0.7 Unbestimmte amorphes Obj. verkohlt 49 12 19 13 1 . . . . . . . . 1 1 4 . . . 1 . . 1 1 . . . . . 1 . . . . 6 20 35 . . 1 2 . . . . 2 . . Total Pflanzenreste Konzentration (Reste/Liter) Indeterminata 181 Abb. 19: Tabelle der Pflanzenfunde aus den Gräbern von Windisch-«Vision Mitte» (Abkürzungen: k.A. = keine Angaben). 61 99 64 25.4 33.0 128.0 5 6 . 43 Kulturpflanzen: Getreide tieren auch mehrere zusammenfassende Arbeiten110. Neun der Gräber, welche während der Grabung Windisch-«Vision Mitte» entdeckt wurden, konnten auf Pf lanzenreste hin untersucht werden. Kulturpflanzen: Hülsenfrüchte Material und Methoden Die meisten der 51 Proben wurden am IPNA nach der Methode der Halbf lotation auf bereitet. Acht Proben waren zuvor schon in der Kantonsarchäologie Aargau geschlämmt worden. Das Gesamtvolumen beträgt mindestens 185 Liter; von drei Proben fehlen allerdings die Angaben. Das Sediment wurde mittels dreier Siebe in Fraktionen von 4,0, 1,0 und 0,35 mm aufgetrennt. Die Proben wurden meist vollständig ausgelesen, einige der voluminösen Fraktionen wurden aber mittels einer Riff le-Box in Stichproben aufgetrennt. Das Auslesen geschah unter einer Stereolupe mit Vergrösserung 6,3bis 40-fach. Die Bestimmungen erfolgten mit Hilfe der Vergleichssammlung des IPNA. Die Nomenklatur der Pf lanzenarten folgt dem Synonymie-Index der Schweizer Flora111. Sämtliche Reste, die nicht verkohlt oder mineralisiert erhalten waren, wurden als moderne Kontamination betrachtet und ausgeschieden. Resultate und Diskussion Insgesamt wurden 5109 Pf lanzenreste bestimmt (Abb. 19). Diese sind verkohlt erhalten, mit Ausnahme von vier mineralisierten Funden. Von Letzteren stammen drei aus FK 1476, aus dem Umfassungsgräbchen von Grab 9. Mineralisierte Reste bilden sich an Stellen mit hoher Calciumphosphatkonzentration, typischerweise Latrinen oder Tierställen. Möglicherweise war das Sediment an dieser Stelle vor der Anlage der Gräber mit Fäkalien belastet. Die durchschnittliche Makrorestkonzentration beträgt 27,6 Reste pro Liter; wobei zwischen den verschiedenen, aber auch innerhalb einzelner Gräber erhebliche Unterschiede beobachtet werden konnten. Als besonders reichhaltig erwiesen sich die Gräber 2, 8 und 9, unterdurchschnittlich waren 1, 4 und 6 und nahezu fundleer waren 3 und 5. Die beiden Fundkomplexe aus Grab 7 lieferten zusammen 374 Pf lanzenreste; auch ohne Volumenangaben darf man sie wohl zu den ergiebigeren Proben stellen. Innerhalb der einzelnen Gräber scheinen die Proben in den meisten Fällen relativ homogen zu sein; auffällige Unterschiede zeigen sich aber bei den Gräbern 2 und 9. In Grab 2, einer Urnenbestattung, ist die Probe aus der Grabgrube sehr viel reichhaltiger als die fünf Proben aus der Verfüllung der Urne. In Grab 9 werden relativ hohe Konzentrationen in den Proben aus dem eigentlichen Grab und dem dazugehörigen Gehhorizont registriert, die Probe aus dem Umfassungsgräbchen ist dagegen fundarm. Von der Summe der Pf lanzenfunde konnten 1987 bis auf ein Niveau bestimmt werden, das ihre Zuordnung zu einer Nutzung oder ökologischen Gruppe erlaubt 44 Unkräuter Grünland Kulturpflanzen: Obst/Nüsse Gehölze: Bäume/Sträucher Gehölze: Bäume/Sträucher (Wildobst/Nüsse) Abb. 20: Pflanzenspektrum aus den Gräbern von Windisch-«Vision Mitte»: Nutzung und Ökologie (n=1987). (Abb. 20). Von diesen gehören 39,9 % zu den Kulturpf lanzen; und wenn man Wildobst und Wildnüsse einschliesst, sind 41,2 % Nahrungspf lanzen. Den weitaus grössten Teil der essbaren Pf lanzen machen Samen der Ackerbohne (Vicia faba) aus (Abb. 21). Die 674 Funde sind grösstenteils halbiert. Diese Tatsache, und die abgerundete Form der Innenseiten, erlaubt anhand eines Vergleichs mit experimentellen Daten die Vermutung, dass die Bohnen wahrscheinlich gekocht waren112. Die grössten Mengen von Vicia faba wurden in den Gräbern 1, 2 und 9 registriert. Zu den Bohnen sind wohl auch die 3029 Samen zu zählen, welche in der Tabelle Abb. 19 als «grosse wickenartige Schmetterlingsblütler» bezeichnet werden. Diesen Bruchstücken fehlt das charakteristische Nabelende, weshalb sie nicht eindeutig angesprochen werden konnten. Als zweite Hülsenfrucht kommt die Linse (Lens culinaris) mit 22 verkohlten Samen vor. 110 111 112 L. Bouby/P. Marinval, Fruits and Seeds from Roman Cremations in Limagne (Massif Central) and the Spatial Variability of Plant Offerings in France. Journal Arch. Science 31, 2004, 77–86 | A. Kreuz, Funktionale und konzeptionelle archäobotanische Daten aus römerzeitlichen Brandbestattungen. Ber. Komm. für Arch. Landesforsch. Hessen 3, 1994/95, 93–97 | A. Kreuz, Functional and Conceptual Archaeobotanical Data from Roman Cremations. In: Burial, Society and Context in the Roman World (Oxford 2000) 45–51 | M. PetrucciBavaud/S. Jacomet, Zur Interpretation von Nahrungsbeigaben in römerzeitlichen Brandgräbern. 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Ackerbohnen (Vicia kohlte Samen, grösstenteils als Hälften vorliegend. faba), ver- Getreidefunde sind vergleichsweise wenig bedeutend und verteilen sich auf fünf Taxa: Gerste (Hordeum distichon/vulgare), Rispenhirse (Panicum miliaceum), Roggen (Secale cereale), Emmer (Tritium dicoccon) und Einkorn (T. monococcum). Obst und Nüsse spielen zahlenmässig auch eine kleinere Rolle, sind aber mit einer beachtlichen Diversität vertreten, nämlich mit je vier domestizierten und wilden Arten. Besondere Erwähnung verdient der Fund von neun Granatapfelsamen (Punica granatum) aus Grab 7, denn diese Art wurde bisher nur äusserst selten gefunden. Der erste Fund nördlich der Alpen überhaupt stammt ebenfalls aus Vindonissa, aus der Grabung WindischBreite113, aus einer ähnlich frühen Zeit wie die hier behandelten Gräber. In Gräbern der Provinzen nördlich der Alpen wurden diese Früchte bisher noch nicht gefunden, trotzdem scheinen sie eine symbolische Bedeutung gehabt zu haben, wie neun Terrakotta-Granatäpfel aus Gräbern von Nida nahelegen (s. unten)114. Aus Italien kennt man Funde verkohlter Samen von Punica granatum von mehreren Friedhöfen115. Granatapfelbäume gedeihen in unserem Klima nicht, es handelt sich also eindeutig um Früchte, die aus dem Mittelmeergebiet importiert wurden. Möglicherweise wurden auch Feigen (Ficus carica), von welchen Kernchen und Fruchtf leischstücke in fünf Gräbern gefunden wurden, aus dem Süden eingeführt. Die Feige wächst allerdings in klimatisch milden Lagen auch bei uns, somit könnte es sich auch um ein lokales Produkt handeln. Wildpf lanzen machen insgesamt 60,1 % aller genauer bestimmbaren Pf lanzenfunde aus. Dies ist ein sehr hoher Anteil, verglichen mit anderen Untersuchungen von römerzeitlichen Brandgräbern. Ein Blick auf die Tabelle verrät, dass davon der allergrösste Teil (1065 von 1194 Resten) auf das Konto einer einzigen Art geht, dem Vogelknöterich (Polygonum aviculare aggr.) (Abb. 22). Besonders zahlreich waren Reste des Vogelknöterichs in den Gräbern 7 und 8. Diese Pf lanze ist ein Unkraut, welches meist f lach über den Boden kriecht und relativ trittresistent ist, oft findet man sie an Wegrändern oder sogar zwischen Pf lastersteinen. Sie hat keinen wirtschaftlichen Wert und wurde daher nicht von anderswo mitgebracht; vielmehr widerspiegelt sie die Vegetation in der unmittelbaren Umgebung des Scheiterhaufens. Die Kremation fand also an einem Platz statt, der stark begangen war, möglicherweise unmittelbar an der Strasse. Obwohl der Verbrennungsplatz nicht gefunden wurde, erlauben die archäobotanischen Resultate die Vermutung, dass er sich in unmittelbarer Nähe befand. Auch andernorts hat es sich gezeigt, dass die römischen Gräberfelder nicht so sauber und unkrautfrei waren, wie wir das aus der heutigen Zeit gewohnt sind. So fanden sich im Südfriedhof zahlreiche Früchtchen der Niederliegenden Fingerhirse (Digitaria ischaemum)116. Getreide, Hülsenfrüchte und Obst finden sich als Beigaben bei vielen Untersuchungen römischer Brandgräber; allerdings zeigen sich bei der Zusammensetzung zeitliche und geografische Unterschiede. Am meisten fällt im hier vorgestellten Spektrum die Häufigkeit der Ackerbohne auf, welche so ausgeprägt noch kaum beobachtet wurde. Eine Parallele dazu finden wir aber auf dem Südfriedhof von Vindonissa, der über einen relativ langen Zeitraum benutzt wurde. Die Bestattungen datieren zwischen 25/30 und etwa 150 n.Chr.; 217 der Gräber konnten archäobotanisch bearbeitet werden117. In den ältesten Gräbern fanden sich vor allem Obst und Ackerbohnen, später wurden Haselnüsse häufiger, und in der jüngsten Phase bevorzugte man Getreide und Walnüsse. Zu Beginn des 1. Jh. scheint die Ackerbohne in Vindonissa als Grabbeigabe besonders beliebt gewesen zu sein. Linsensamen wurden in den neun Gräbern von Windisch-«Vision Mitte» nur in kleiner Zahl gefunden. In den Gräbern des Südfriedhofs ist sie die häufigste Hülsenfrucht, wie auch in vielen anderen archäobotanisch untersuchten Friedhöfen, so beispielsweise in Augst-Rheinstrasse 46 (26 Gräber, 50/60– 150 n.Chr.)118 oder Augst-Sägerei Ruder (70–100/110 n.Chr.)119 oder in Reinach BL-Mausackerweg/Langrüttiweg (zweite Hälfte 1. Jh. n.Chr.)120. Es wäre interessant zu erfahren, ob auch andernorts die AckerS. Jacomet, Granatäpfel aus Vindonissa. AS 25, 2002, 14–19 | S. Jacomet/D. Kucˇ an/A. Ritter/G. Suter/A. Hagendorn, Punica granatum L. (pomegranates) from Early Roman Contexts in Vindonissa (Switzerland). Vegetation History and Archaeobotany 11, 2002, 79–92 | Jacomet 2003. 114 I. Huld-Zetsche/Rüger, NIDA – Eine römische Stadt in Frankfurt am Main, Schriften Limesmuseum Aalen 48 (Stuttgart 1994) | E. Rüger, Die römischen Terrakotten von Nida-Heddernheim. Schriften des Frankfurter Museums für Vor- und Frühgeschichte 5 (Frankfurt a.M. 1980). 115 M. Rottoli/E. Castiglioni, Plant Offerings from Roman Cremations in Northern Italy: A Review. Vegetation History and Archaeobotany 20, 2011, 495–506. 116 Petrucci-Bavaud u.a. 2000 | Hintermann 2000. 117 Petrucci-Bavaud u.a. 2000 | Hintermann 2000. 118 Petrucci-Bavaud 1996. 119 Pfäff li u.a. 2004. 120 A. Schlumbaum/M. Petrucci-Bavaud, Die Pf lanzenreste. In: Fünf Gräber und eine Villa. Befunde und Funde der Römerzeit in Reinach (BL) (Liestal 2003) 69–77. 113 45 bohne in der ersten Hälfte des 1. Jh. besonders beliebt war und später von der Linse abgelöst wurde; vorläufig muss diese Antwort aber offen bleiben. Die Leichenbrände (Andreas Cueni) Die Proben aus den zehn Brandgräbern wurden am IPNA geschlämmt, organische Reste und Tierknochen ausgesondert und die kalzinierten Menschenknochen in zwei Fraktionen von 1 mm und 4 mm Maschenweite zur anthropologischen Untersuchung weitergeleitet. Das Knochenmaterial gelangte in gereinigtem Zustand zur Untersuchung. Methodik Die Untersuchung der vorhandenen Brandknochenreste geschah sowohl anhand konventioneller morphognostischer Methoden121 als auch mittels mikroskopischer Verfahren. Bei Bruchstücken, die makroskopisch keine zweifelsfreie Zuweisung gestatteten, wurden zur Absicherung und zum Ausschluss von Tierknochen Dünnschliffe hergestellt und mikroskopisch bei 120-facher Vergrösserung auf charakteristische histologische Merkmale hin untersucht 122. Ergänzend zur morphologischen Altersschätzung anhand von Schädelnähten123 oder Spongiosastrukturen der Langknochenepiphysen124 wurde in neun Fällen (Gräber 1, 2, 4–10) die Methode der Zahnzementannulation125 herangezogen. Die durchschnittliche Abweichung vom realen Alter wurde zu ±3,2 Jahren angenommen. Die Körperhöhenschätzung erfolgte in erster Linie anhand des Durchmessers des Radiusköpfchens nach den Tabellen von Rösing 126. Da keine vollständigen Langknochen vorlagen, wurden in den übrigen Fällen die erforderlichen Längenmasse aus entsprechenden Abschnittsmassen rekonstruiert 127. Daneben wurde der anatomischen Lokalisierung der Brandreste besondere Aufmerksamkeit geschenkt, um so Hinweise auf eine mögliche intentionelle Auswahl der Fragmente und damit auf das Bestattungsbrauchtum zu erhalten. Die anthropologische Bestimmung erfolgte wie üblich im Blindverfahren, das heisst ohne Kenntnis von allfälligen archäologischen Befunden und Beigaben. Dadurch wurde eine willkürliche Anpassung der anthropologischen Ergebnisse an die archäologischen Gegebenheiten ausgeschlossen. Befunde und Diskussion Die Leichenbrände gestatten nur spärliche Aussagen zur Demografie (Abb. 23). Die Geschlechterverteilung zeigt mit acht Individuen ein sehr starkes Überwiegen von Männern. Als weiblich konnte lediglich der Leichenbrand aus Grab 9 bestimmt werden. Die Knochen des juvenilen Individuums aus Grab 10 liessen keine 46 Abb. 22: Windisch-«Vision Mitte». Vogelknöterich (Polygonum aviculare aggr.), verkohlte Früchtchen. Bestimmung zu. Die Zusammensetzung des Ensembles entspricht nicht dem Ausschnitt einer natürlichen Bevölkerung, sondern belegt eindeutig eine Selektion. Die Kriterien der Auswahl sind jedoch nicht bekannt. Die Sterbealter der Männer schwanken zwischen etwa 20 und 50 Jahren und liegen damit im frühadulten bis mittelmaturen Altersbereich. Ein höheres Alter als 50 Rösing 1977 | D. Ferembach/I.Schwidetzky/M. Stloukal, Empfehlungen für die Alters- und Geschlechtsdiagnose am Skelett. Homo 30 (2), 1979, 1–32 | J. Wahl, Leichenbranduntersuchungen. Ein Überblick über die Bearbeitungs- und Aussagemöglichkeiten von Brandgräbern. Prähist. Zeitschr. 57, 1982, 1–125 | J. Wahl, Menschenknochen. Osteologische Untersuchung der Knochenreste aus dem Gräberfeld. In: J. Wahl/M. Kokabi Das römische Gräberfeld von Stettfeld I. Forsch. u. Ber. Vor- u. Frühgesch. Baden-Württemberg 29 (Stuttgart 1988) 46–223 | Wahl 2000. 122 B. Heussner/K.-U. Heussner, Aussagemöglichkeiten von mikroskopischen Untersuchungen an Leichenbränden. In: F. Horst/ H. Keiling, Bestattungswesen und Totenkult in ur- und frühgeschichtlicher Zeit (Berlin 1991) 381–386. 123 K. Hajnis/J.T. Novak, Die Verwachsung der Nähte am Schädeldach. Anthropologie 14, 1976, 89–92. 124 J. Szilvássy/H. Kritscher, Estimation of Chronological Age in Man Based on the Spongy Structure of Long Bones. Anthrop. Anz. 48, 1990, 289–298. 125 B. Grosskopf, Cementochronologie – eine Methode zur Bestimmung des Individualalters. Bull. Soc. Suisse d‘Anthrop. 2 (2), 1996, 27–31 | B. Grosskopf, Leichenbrand – Biologisches und kulturhistorisches Quellenmaterial zur Rekonstruktion vor- und frühgeschichtlicher Populationen und ihrer Funeralpraktiken. Diss. Univ. (Leipzig 2004) | M. Francken, Zahn um Zahn – Die Zahnzementannulation als Methode zur Altersdiagnose. Beurteilung und Vergleich der TCA mit konventionellen Verfahren zur Bestimmung des Sterbealters, basierend auf den Skelettresten des bandkeramischen Gräberfeldes von Schwetzingen. Unveröff. Magisterarbeit Geowissenschaftliche Fakultät Univ. (Tübingen 2006). 126 Rösing 1977, 53–80. 127 G. Müller, Zur Bestimmung der Länge beschädigter Extremitätenknochen. Anthrop. Anz. 12, 1935, 70–72 | E. Sonder/R. Knussmann, Zur Körperhöhenbestimmung männlicher Individuen aus Femur-, Tibia- und Humerusfragmenten. Zeitschr. Morphologie u. Anthrop. 75, 1985, 131–153 | Herrmann 1988. 121 Grab Brandgewichte (in g) Brandstufe Färbung Brandtemperatur (nach Wahl 2000) Individuenzahl Geschlecht Alter (in Jahren) Körperhöhe (in cm) 1 330 II–V gelblich-weiss bis altweiss 200 – ≥800 °C 1 Mann 36–42 175 2 435 II–V gelblich-weiss bis altweiss 200 – ≥800 °C 1 Mann 19–25 172 3 97,5 II–V grauschwarz bis milchigweiss 400 – ≥800 °C 1 Mann 20–50 171 4 837 II–V dunkelbraun bis altweiss 300 – ≥800 °C 1 Mann 25–31 179,5 5 422 II–V bräunlich-grau bis altweiss 300 – ≥800 °C 1 Mann 32–38 174 6 279 III–V milchig-hellgrau bis altweiss 550 – ≥800 °C 1 Mann 22–28 179,5 7 655 III–V blaugrau bis altweiss 550 – ≥800 °C 1 Mann 39–45 176,5 8 656 IV–V kreideartig matt bis altweiss 700 – ≥800 °C 1 Mann 28–34 174,5 9 241 II–V grauschwarz bis altweiss 400 – ≥800 °C 1 Frau 35–41 165 10 20 III–V blaugrau bis altweiss 550 – ≥800° C 1 Indet. 13–19 152 Abb. 23: Windisch-«Vision Mitte». Zusammenfassung der Individualdiagnosen. Jahre hat keiner der Männer erreicht. Die Frau verstarb im spätadulten bis frühmaturen Altersbereich. Das jugendliche Individuum erlangte ein Alter von etwa 16 Jahren. Die linearen Fragmentgrössen der ausnahmslos stark fragmentierten Leichenbrände erstreckt sich von sehr klein (≤16 mm) bis sehr gross (≥46 mm). Eine Ausnahme bildet Grab 10, das ausschliesslich aus kleinen oder sehr kleinen Bruchstücken (≤23 mm) besteht. Die anthropologisch verwertbaren Leichenbrandgewichte ergeben sich aus der Summe der Teilgewichte von anatomisch bestimmbaren Schädel-, Rumpf- und Extremitäten-Bruchstücken. Sie differieren zwischen 20 g und 837 g und sind damit als eher gering einzustufen. Vor allem für die Gräber 3, 6, 9 und 10 kann aufgrund der Materialmenge eine Auswahl der Leichenbrände und damit eine eingeschränkte Repräsentativität angenommen werden128. Aus den übrigen Brandgräbern liegen Teile sämtlicher Körperpartien vor; die Leichenbrände können daher als repräsentativ angese- hen werden. In keinem Grab fanden sich Hinweise auf Doppel- oder Mehrfachbestattungen. Es handelt sich in jedem Fall um die verbrannten Überreste eines einzigen Individuums. Die Färbung und damit die Brandstufen kalzinierter Knochen hängen wesentlich von der Temperatur ab, die im Verlauf des Verbrennungsprozesses auf dem Scheiterhaufen erzielt wird. Sämtliche Brandreste belegen mit Brandstufen zwischen II und V eine deutlich inhomogene Verbrennung. Diese Stufen entsprechen Verbrennungstemperaturen zwischen etwa 350 °C und 900 °C. Die am stärksten verbrannten Stücke zeigen häufig leichtere Craquelémuster oder beginnende elliptische Hitzerisse. Beide Erscheinungen weisen auf eine Brandtemperatur der Stufe V und damit eine Temperatur von mehr als 800 °C hin. Durch die Hitzeeinwirkung erfolgen Schrumpfungen 128 Möglicherweise ist dieser Umstand jedoch auch dadurch zu erklären, dass die Gräber 3, 6 und 10 teilweise erheblich durch jüngere Strukturen gestört waren. 47 und Deformationen der Knochen. Sie sind abhängig von den erreichten Temperaturen und dem Mineralgehalt der einzelnen Knochen. Die dabei auftretenden Hitzerisse und craqueléartigen Muster entstehen nur an nicht mazerierten oder länger gelagerten Knochen. Für die Brandbestattungen der Grabung Windisch-«Vision Mitte» ist damit primärer Leichenbrand belegt. Alle Leichenbrände zeigen im Wesentlichen die gleichen Verbrennungseigenschaften und verweisen damit auf einen weitgehend einheitlich geübten Kremationsbrauch. Die Körperhöhenschätzung geschah unter Berücksichtigung einer mittleren Schrumpfung von 12 %. Alle untersuchten Männer erwiesen sich als sehr gross gewachsen und von auffallend robuster Konstitution. Zwei der Individuen besassen sogar Körperhöhen von annähernd 179 cm. Die Bestatteten zeigen an Arm- und Beinknochen deutliche Muskelmarken, die auf andauernde körperliche Betätigung hinweisen. Auch die Körperhöhe der Frau aus Grab 9 kann als überdurchschnittlich bezeichnet werden; für das noch nicht ausgewachsene Individuum aus Grab 10 sind keine Aussagen möglich. Die festgestellten Körperhöhen weichen deutlich von den Bestattungen aus dem Südfriedhof von Vindonissa ab (Mann ca. 163 cm; Frau ca. 159 cm)129 und legen die Annahme nahe, dass die Bestatteten unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen angehörten. Die durchschnittliche Körperhöhe der Männer von mehr als 170 cm liegt sogar deutlich über dem römischen Militärmass von 5 Fuss 7 Zoll, was etwa 165 cm entspricht, sie könnte aber durchaus mit der Körperhöhe von 5 Fuss 10 Zoll übereinstimmen, die für die Angehörigen der ersten Kohorte verlangt worden sein soll 130. Es könnte sich daher um speziell ausgesuchte Angehörige des römischen Heeres gehandelt haben. Erwartungsgemäss konnten an den Knochen nur wenige krankhafte Veränderungen festgestellt werden. Der 36- bis 42-jährige Mann aus Grab 1 wies am distalen Gelenk des ersten Mittelhandknochens der rechten Hand Anzeichen einer Arthrose auf, die als mögliche Belastungsspuren oder als Folgen eines Traumas zu werten sind. Die Frau aus Grab 9 besass an den ventralen Rändern von mindestens zwei Wirbelkörpern Randwülste oder Osteophyten, die als Folge einer Spondylose, einer degenerativen Veränderung der Wirbelsäule zu bewerten sind. Sie haben der Frau keine nennenswerten Beschwerden verursacht. Stärkere Schmerzen hat ihr ein Backenzahn bereitet, der einen grösseren kariösen Defekt aufwies. Pathologica, die eine unmittelbare Todesursache belegen könnten, waren nicht vorhanden. langen nicht in die Gräber. Ihr Vorkommen in den Gräbern deutet auf eine nachträgliche Fragmentierung der verbrannten Reste hin. Eine Zertrümmerung ist bei Urnenbestattungen in der Regel notwendig, um die Knochen in die Urne einbringen zu können. Scharfe Bruchkanten belegen, dass die Fragmentierung nicht im Feuer, sondern nachträglich erfolgt sein muss. Auch vorzeitiges Löschen des Scheiterhaufens könnte ein scharf kantiges Zerbrechen der verbrannten Knochen bewirkt haben. Alle beurteilbaren Leichenbrände weisen einen hohen Verbrennungsgrad des Schädels und des Axenskeletts mit Wirbelsäulen oder Rippen auf, während die lateralen Partien eine schlechtere Verbrennung zeigen. Der Ort der grössten Hitzeentwicklung scheint daher im Zentrum des Scheiterhaufens gelegen zu haben und die Temperatur zu den Seiten hin geringer gewesen zu sein. Möglicherweise bemass man das Brennholz für die Brandprozesse eher sparsam, wobei jedoch der Leichnam in zentraler Lage auf den Scheiterhaufen gebettet wurde. Ebenfalls erweist sich die rechte Seite des Schädels als weniger stark kalziniert als die linke. Dies kann durch eine Neigung des Kopfes zur rechten Gesichtsseite hin verursacht worden sein. Durch die schwächere Sauerstoffzufuhr entwickelte sich auf dieser Seite eine geringere Hitze. Ob dies durch eine beabsichtigte Bettung der Toten oder durch spontane Verlagerungen der Leichen im Feuer geschah, lässt sich nicht entscheiden. Unvollständigkeit und mangelnde Repräsentativität einiger Leichenbrände lassen mit einer Ausnahme keine beabsichtigte Selektion nach anatomischen Gesichtspunkten feststellen. Eine Besonderheit bildet Grab 6, bei dem die unteren Extremitäten nahezu vollständig fehlen. Für die spärlichen Reste des subadulten Individuums aus Grab 10 kann möglicherweise eine Auslese angenommen werden, jedoch müsste auch an eine weniger sorgfältige Beisetzung gedacht werden, die mit einem niedrigeren sozialen Status des jugendlichen Verstorbenen zusammenhängen könnte. Sämtliche Leichenbrände zeigen im Inneren der grossen Langknochen hellgrau bis schwarz verfärbte Bereiche. Diese primären Kohlenstoffverfärbungen sind Kohlenstoffreste, die aufgrund ungenügender Verbrennungsdauer nicht ausgetreten sind. Sie belegen eine ausreichend hohe Verbrennungstemperatur, jedoch eine zu kurze Dauer der Feuereinwirkung 131. Möglicherweise ist der Einäscherungsprozess durch Löschen mit Wasser oder Wein oder durch Auseinanderreissen der Scheiterhaufenreste vorzeitig abgebrochen worden. Um eine mögliche Einschichtung in anatomischer Ab- Kremations- und Bestattungsbräuche Für die Beisetzung wurden nach dem Auskühlen des Scheiterhaufens die Knochenreste herausgelesen und in Urnen oder Gruben verbracht. Auffällig ist die grosse Anzahl an kleinen Knochenfragmenten und -splittern. Normalerweise verbleiben nach der Kremation kleinere Bruchstücke unter den Holzkohleresten und ge48 B. Kaufmann, Anthropologische Untersuchungen. In: Hintermann 2000, 141–150. 130 Vegetius I, 5. 131 Herrmann 1988 | B. Herrmann/G. Grupe/S. Hummel/ H. Piepenbrink/H. Schutkowski, Prähistorische Anthropologie. Leitfaden der Feld- und Labormethoden (Berlin, Heidelberg, New York 1990) 261–265. 129 folge rekonstruieren zu können, erfolgte die Entnahme der Urneninhalte in Abstichen von etwa 3–6 cm. Dabei ergab sich für sämtliche Urnengräber ein einheitliches Muster. Auf den Boden der Urne legte man grössere Bruchstücke von Langknochen, meist Röhrenknochen der unteren Extremität, sowie Fragmente des Beckengürtels (Darmbein, Sitzbein und Kreuzbein). Darüber wurden mit Lenden- und Brustwirbeln sowie Rippenfragmenten Reste des Rumpfs gebettet, dazu kamen kalzinierte Knochen der Handwurzeln und der Finger. Zuoberst fanden sich Teile der oberen Extremitäten und des Schultergürtels sowie vereinzelte Schädelfragmente. Offensichtlich begann das Einsammeln der Brandreste am Fussende des Scheiterhaufens und wurde mit den Schädelresten beendet. Bemerkenswert ist, dass man sich weitgehend auf das Einbringen von postkranialen Skelettelementen in die Urne beschränkte. Das auffallende Fehlen von Schädelbruchstücken mag mit der starken natürlichen Fragmentierung dieser Knochen im Feuer zusammenhängen, die als Folge der thermischen Ausdehnung des Schädelinhalts eintritt. Synthese und Schlussfolgerungen ( Jakob Baerlocher) Die sehr gut dokumentierten Brandbestattungen der Ausgrabung Windisch-«Vision Mitte», auf der auch naturwissenschaftliche Methoden zur Anwendung kamen, ermöglichten nach der Untersuchung des Südfriedhofs zum zweiten Mal eine interdisziplinäre Auswertung zu Gräbern aus Vindonissa132. In der Synthese sollen aufgrund der Einzelergebnisse folgende Fragestellungen beantwortet werden: – Was lässt sich im Hinblick auf die Bestattungs- und Beigabensitten aussagen? – Sind die Totenrituale als römisch133 oder einheimisch zu interpretieren? – Was kann über die Identität und Herkunft der hier Bestatteten gesagt werden? Bei den vorliegenden Bestattungen handelt es sich um Brandbestattungen. Die Toten wurden auf ustrinae verbrannt und der Leichenbrand anschliessend nicht weit davon entfernt bestattet. Im 1. Jh. v. und im 1. Jh. n.Chr. war die Brandbestattung sowohl in Italien134 als auch in den Gebieten nördlich der Alpen135 die Regel. Die Verbrennungsplätze der Gräber aus der Grabung Windisch-«Vision Mitte» konnten nicht nachgewiesen werden, der Nachweis von verbranntem Vogelknöterich in allen Gräbern legt jedoch nahe, dass die Kremation in unmittelbarer Nähe der Strasse erfolgte (s. oben). Der Zustand der Leichenbrände deutet auf eine professionelle Durchführung der Kremation und auf eine gezielte Auslese der Knochen hin: Dies fing bei der Grösse der Scheiterhaufen an, die eine ausreichende Kremierung ermöglichten, ging über das Ablöschen oder Aus- einanderziehen derselben bis hin zur Auslese und einheitlichen Deponierung der einzelnen Leichenbrände in den Urnen (s. oben). Dass dies keine Selbstverständlichkeit war und Fachwissen voraussetzte, zeigen einerseits experimentalarchäologische Versuche136, andererseits weisen auch die antiken Schriftquellen darauf hin, dass es bei Brandbestattungen durchaus zu Komplikationen kommen konnte137. Die Bestattungsform – Brandschüttung mit Urne – kommt sowohl in keltischen als auch in römischen Kontexten vor. Die Bestattung des Leichenbrandes in nur einem Gefäss scheint jedoch eine ursprünglich römische Sitte zu sein138. Die Brandschüttung mit Knochennest ist ebenfalls zum Bestattungstyp «Brandschüttung mit Urne» zu rechnen, nur ist in diesem Fall von einem organischen Leichenbrandbehälter auszugehen139. Vergleiche mit anderen Nekropolen an Legionsstandorten in den Nordwestprovinzen, in denen sich in der Frühzeit Personengruppen aus Italien oder aus bereits stark romanisierten Provinzen auf hielten140, zeigen, dass diese beiden Formen der Bestattung in römischer Tradition stehen. Weit weniger eindeutig ist die Einordnung des dritten Bestattungstyps, jener der Brandgrubenbestattung. So gilt diese als «keltische» resp. «nichtrömische» Bestattungsform141. In Nave in Norditalien sind v.a. die ältesten Gräber in dieser Art angelegt 142. Dies mag ein Hinweis auf den keltischen Ursprung dieser Bestattungsart sein, war doch Norditalien seit Längerem von einer keltischen Bevölkerung Abgesehen von den Gräbern des Südfriedhofs (WindischDägerli, vgl. Hintermann 2000), konnte dies bis jetzt bei keiner Nekropole von Vindonissa gemacht werden. 133 Als Kriterien für römische Bestattungs- und Beigabensitten werden in der Forschung Grabsteine und Grabbauten sowie bestimmte Beigaben wie Balsamarien, Lampen und Münzen angesehen. Kulthandlungen am Grab, wie sie für römische Totenrituale typisch sind, sind mangels archäologischen Befundes bisher meist nur schwer nachweisbar. Gerade hier würde sich jedoch zeigen, ob eine Bestattung gemäss römischen resp. mediterranen Ritualen durchgeführt wurde (Fasold/Witteyer 1998, 181). Grundsätzlich ist anzumerken, dass es die römische Bestattung nicht gab. So können sich die Bestattungs- und Beigabensitten in den Gräbern Italiens von Nekropole zu Nekropole unterscheiden. Ist im Folgenden von einer römischen Bestattung die Rede, so sind sich die Autoren dieser Problematik bewusst und benutzen den Begriff in erster Linie zur Unterscheidung von indigenen Bestattungs- und Beigabensitten. 134 Schrumpf 2006, 71. 135 Witteyer 2000, 326. 136 M. Becker u.a., Nach dem grossen Brand. Verbrennung auf dem Scheiterhaufen – ein interdisziplinärer Ansatz. Ber. RGK 86, 2005, 63–195. 137 D. Noy, Half-burnt on an Emergency Pyre. Roman Cremations which went wrong. Greece and Rome 47/2, 2000, 186–196. 138 Kaiser 2001, 282 stellt ein vermehrtes Auf kommen dieser Bestattungsform im 1. Jh. n.Chr. am Niederrhein fest. 139 Hintermann 2000, 47. 140 Beispiele aus Italien: Zu Rom vgl. von Hesberg 1998, 13; zu Nave vgl. Passi Pitcher 1987, 19. Beispiele aus den Nordwestprovinzen: Zu Haltern vgl. Berke 2011, 286; zu Nidau vgl. Fasold 2004, 23. 141 Hintermann 2000, 140 | Rasbach 1997, 123. 142 Passi Pitcher 1987, 18. 132 49 bewohnt, was sich auch anhand der Beigabenausstattung der Gräber nachvollziehen lässt 143. In Haltern ist diese Bestattungsform ebenfalls bei ansonsten römisch geprägten Gräbern nachzuweisen144. Denkbar ist, dass Personengruppen aus Norditalien in Vindonissa an dieser «nichtrömischen» Bestattungsform festhielten145. Dass Norditalien zu dieser Zeit eines der bevorzugten Rekrutierungsgebiete für die Legionen war, ist hinlänglich bekannt146. Auffällig ist die Tatsache, dass sich die Leichenbrandgewichte aus den Brandgrubengräbern nicht sonderlich von jenen der Brandschüttungen mit Urnen unter scheiden147, dies im Gegensatz zu den Befunden aus dem Südfriedhof von Vindonissa148. Anscheinend achtete man auch bei den Brandgrubengräbern darauf, möglichst viele der kalzinierten Knochen aufzusammeln und zu bestatten. Ein weiteres Merkmal für die Einordnung der Bestattungssitten ist die Lage und architektonische Ausgestaltung der Gräber. Während sich von Letzterer nichts erhalten hat oder diese nie existierte, entspricht die Anlage der Gräber entlang einer Strasse mediterraner Tradition149. Solche Gräberstrassen sind in den Nordwestprovinzen in der Regel auf urbane Zentren resp. auf Legionsstandorte beschränkt 150. In den ländlichen Gebieten fehlen Gräberstrassen hingegen151. Gerade das Beispiel Vindonissa zeigt, dass an demselben Ort verschiedene Formen von Nekropolen existierten. Während an der Alten Zürcherstrasse und teilweise auch an der Aarauerstrasse sowohl die Organisation der Gräber im Sinne einer Gräberstrasse als auch Grabmonumente und Grabsteine festgestellt werden konnten152, konnten im Südfriedhof von Vindonissa weder eine Strasse noch eine auf eine solche Bezug nehmende Organisation der einzelnen Gräber noch Grabsteine – und bis auf eine Ausnahme – auch keine Grabmonumente beobachtet werden153. Neben chronologischen Ursachen ist dieser Umstand wohl v.a. dadurch zu erklären, dass sich in den verschiedenen Nekropolen Belegungen durch Personen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen oder unterschiedlichen Ethnien widerspiegeln154. Im Zusammenhang mit den mediterranen Bestattungssitten sind auch die verbrannten Reste von beinverzierten Klinen zu sehen. Die Auf bahrung und anschliessende Kremierung der Toten auf diesen Betten orientiert sich an der Bestattungspraxis der Stadtrömischen Nobilität 155. Diese Klinen waren Teil einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung der Totenrituale. Da sich Gräber mit Resten von beinernen Klinen nördlich der Alpen praktisch ausschliesslich an militärischen Standorten finden156 und dort wiederum nur in Gräbern entlang von Gräberstrassen157, macht dies eine Herkunft der hier bestatteten Personen aus einem militärischen Umfeld, die mit dieser Form der Totenrituale vertraut waren, wahrscheinlich158. Dabei liegt nahe, dass diese Personen aus Italien selbst oder zumindest aus romanisierten Provinzen stammten. In Bezug auf die Beigabensitten haben unsere Untersuchungen Folgendes ergeben: Nur in einem Grab liessen sich die Reste eines verbrannten Krugs sowie zweier Amphoren feststellen. Beide sprechen für die Beigabe 50 von Flüssigkeiten oder eine Libation im Zuge der Kremierung 159. In allen hier vorliegenden Gräbern fanden sich hingegen regelhaft Reste von geschmolzenen Balsamarien. Die Balsamarien als Behältnisse für Parfüme oder Duftöle sind Überbleibsel der Beigabe resp. der Opferung von «Wohlgerüchen» am Scheiterhaufen160. Diese Beigabensitte, die vermutlich auf eine hellenistische Tradition zurückgeht 161, ist in den schriftlichen Quellen162 gut belegt und spielte im römischen Totenritus eine wichtige Rolle163. Auch die archäologischen Zeugnisse für diese Form der Primärbeigabe sind zahlreich. Sie kann in Rom ab dem 1. Jh. v.Chr.164 und in Norditalien ab frühaugusteischer Zeit beobachtet werden165. Bezeichnenderweise finden sich in der 1. Hälfte des 1. Jh. n.Chr. Balsamarien in den Nordwestprovinzen v.a. in Gräbern an militärischen Standorten wie Haltern166, Mainz167, Kempten168 oder Vindonissa, dort vorwiegend in den Gräbern an der Alten ZürcherstraFasold/Witteyer 1998, 183 Anm. 20 mit weiterer Lit. S. 188f. Berke 2000, 29. 145 So ist denn die Beigabenausstattung der Brandgrubengräber von Windisch-«Vision Mitte» ausgesprochen römisch. 146 Witteyer 2000, 320 | Speidel 1996, 46f. 147 So wiegt der Leichenbrand aus Grab 4, einer Brandschüttung mit Urne, 1583 g, was dem höchsten Leichenbrandgewicht der hier vorliegenden Gräber entspricht. Der Leichenbrand aus Grab 2, ebenfalls einer Brandschüttung mit Urne, wiegt dagegen nur 562 g. Die Leichenbrände aus den Gräbern 7 und 9, beides Brandgrubengräber, wiegen jeweils 751 resp. 766 g. (vgl. Abb. 23). 148 Hintermann 2000, 184. 149 Meier-Riva 2001, 32 | Witteyer 2000, 320. 150 Witteyer 2000, 324. 151 Witteyer 2000, 320. 152 Hintermann 1998, 60 (zu den Gräbern an der Alten Zürcherstrasse) | T. Eckinger, Die Ausgrabungen der Antiquarischen Gesellschaft von Brugg und Umgebung in Vindonissa vom Jahr 1899. ASA N.F. 2, 1900, 86–89. Vgl. dazu den Beitrag von R. Fellmann Brogli, R. Frei-Stolba, J. Trumm und U. Zumbrunn in diesem Jahresbericht (bes. Abb. 5). 153 Meier-Riva 2001, 38 | Hintermann 2000, 62, geht beim Südfriedhof dennoch von der Anwesenheit einer Strasse aus; die Lage der Gräber lässt zumindest keine Organisation derselben im Sinne einer Gräberstrasse erkennen, was die Existenz einer Strasse an dieser Stelle freilich nicht ausschliesst. Dazu auch Hintermann 1998, 60. 154 So auch Meier-Riva 2001, 38. 155 Heinzelmann 1998, 43. 156 Witteyer 2000, 328f. 157 In Vindonissa stammen alle Reste von beinverzierten Klinen aus Gräbern an der Alten Zürcherstrasse oder der Aarauerstrasse, also aus Gräbern entlang der Gräberstrassen. Im Südfriedhof dagegen konnten solche Beinschnitzereien in keinem der insgesamt rund 375 Gräber nachgewiesen werden, vgl. Hintermann 1998, 60. 158 Witteyer 2000, 328f. 159 Witteyer 2000, 336. 160 Schrumpf 2006, 82f. 161 Fasold/Witteyer 1998, 182. 162 Mart. 10, 26 | Ovid. Fast. 3, 561 | Petron 77, 7 | Plinius NH 12, 82f. 163 Fasold/Witteyer 1998, 182. 164 von Hesberg 1998, 17. 165 Fasold/Witteyer 1998, 187. 166 Berke 2011, 87. 167 Witteyer 2000, 329. 168 Mackensen 1978, 161 Tab. 28. 143 144 sse169. In ländlichen Gebieten hingegen findet man diesen Beigabentyp selten170. Bei den pf lanzlichen Primärbeigaben ist unklar, ob sie vor, während oder nach dem Anzünden des Scheiterhaufens deponiert wurden171. Die Beigabe von Nahrungsmitteln wird ebenfalls in den Schriftquellen erwähnt 172. Bei diesen Beigaben stellt sich die Frage, ob sie als Nahrungsmittel für das Jenseits angesehen wurden oder eher einen symbolischen Gehalt als Opfer für den Verstorbenen oder die Götter besassen173. Gerade bei den Ackerbohnen ist eine symbolische Konnotation über die blosse Funktion als Nahrungsmittelbeigabe denkbar. Laut Plinius dem Älteren glaubte man, dass sich in den Bohnen die Seelen der Verstorbenen befänden, man diese deshalb als feierliche Totenopfer darbrachte und dass es deshalb einem Flamen-Priester verboten gewesen ist, diese zu essen174. Dazu passt der Umstand, dass in den frühen Gräbern des Südfriedhofs von Vindonissa Bohnen und Obst als primäre Nahrungsmittelbeigaben dominieren. Später jedoch ist eine Verschiebung hin zu Linsen als dominierende Beigabe feststellbar 175. Dies könnte damit erklärt werden, dass die Sitte, Ackerbohnen als Totenopfer darzubringen, später nicht mehr bekannt war oder dann Personen mit einem anderen kulturellen Hintergrund dort bestattet wurden. Wie die Auswertung der Pf lanzenreste aus dem Militärlager Oberaden zeigte, war Getreide das Hauptnahrungsmittel der dort stationierten Soldaten; Bohnen konnten hingegen nur in geringen Zahlen nachgewiesen werden176. Auch dies spricht für den eher symbolischen Gehalt der Bohnen, denn als blosses Nahrungsmittel für das Jenseits würde Getreide mehr Sinn machen, zumindest der alltäglichen Ernährung eher entsprechen. Die Frage nach einer symbolischen Bedeutung stellt sich auch beim Granatapfel und den Feigen. So deutet gerade die Konnotation des Granatapfels mit Persephone/ Hades in der griechisch/römischen Mythologie auf eine symbolische Komponente im funerären Kontext hin177. Grundsätzlich ist der Granatapfel in römischer Zeit eine ausgesprochene Delikatesse und Luxusgut gewesen178. Im Gegensatz dazu lassen sich Feigen weitaus häufiger nachweisen179. So finden sich verkohlte Feigenreste in Heiligtümern180 oder in Gräbern181, und mineralisierte Reste lassen sich zu Tausenden in Latrinen nachweisen182. Die häufigen Funde von Feigen in Alltagskontexten belegen, dass Feigen ein Grundnahrungsmittel waren183. Jedoch lassen die vielen Funde von Feigen in sakralen und funerären Kontexten eine symbolische Bedeutung dieser Früchte als Opfergabe, über ihre Funktion als Nahrungsmittel hinaus als plausibel erscheinen. Pf lanzliche Beigaben in vergleichbarer Zusammensetzung finden sich auch in weiteren Gräberfeldern in Norditalien so in Nave184, nördlich der Alpen im Südfriedhof von Vindonissa185 oder in Mainz-Weisenau186. Die Beigabe von Südimporten im nordalpinen Gebiet beschränkt sich jedoch auf Bestattungen im städtischen Umfeld, während sie in ländlichen Regionen scheinbar fehlen187. Ob dies allein mit der besseren verkehrstopografischen Lage von Städten oder mit dem höheren Romanisierungsgrad der Bewohner zusammenhängt, muss vorläufig offen bleiben. Die Beigabe von pf lanzlichen Nahrungsmitteln ist nach Aussage der schriftlichen Quellen und aufgrund von Vergleichen aus Italien durchaus auch als eine römische Beigabensitte anzusprechen. Auch bei den verbrannten tierischen Beigaben ist teilweise eine symbolische Bedeutung denkbar, vor allem im Fall der perinatalen Ferkel, die auf das Opfer einer trächtigen Sau für Ceres schliessen lassen (s. oben). Allgemein ist festzuhalten, dass sämtliche Fleischbeigaben qualitativ hochwertig sind und in Analogie zu Siedlungsbefunden auf eine sozial besser gestellte Gesellschaftsschicht hinweisen188. Der Vergleich mit anderen archäozoologisch ausgewerteten Gräbern zeigt, dass Schwein und Huhn die typische tierische Primärbeigabe bilden189. Die verbrannten Tierknochen können entweder als Nahrungsmittelbeigaben oder als Opfer interpretiert werden190. Über die Ursprünge dieser Sitte ist wenig bekannt. Es wurde eine keltische Herkunft vermutet, doch liegen zu wenige Vergleiche aus Italien vor, um diese sicher einem bestimmten Kulturkreis zuordnen zu können191. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass man wegen der geringen Anzahl von Primärbeigaben in den Gräbern anscheinend keinen grossen Wert darauf legte, diese Beigaben den Verstorbenen möglichst vollHintermann 2000, 329. Kaiser 2001, 284. 171 Witteyer 2000, 331. 172 Vergil, Aen. 6, 225f. | Catull 59, 3f., der von Nahrungsmitteldiebstählen von brennenden Scheiterhaufen berichtet. Bei Plautus findet sich gar die Bezeichnung bustrapi für diese Art von Dieben, Plautus, Pseud., 3, 4, 8. 173 Zum symbolischen Gehalt von Nahrungsbeigaben vgl. auch Passi Pitcher 1987, 113 mit einer etwas anderen Deutung. 174 Plinius NH 30, 119. Zur symbolischen Bedeutung der Bohne vgl. auch P. Garnsey, The Bean. Substance and Symbol. In: P. Garnsey (Hrsg.), Cities, Peasants and Food in Classical Antiquity. Essays in Social and Economic History (Cambridge 1998) 214–218. 175 Petrucci-Bavaud u.a. 2000, 157f. 176 Kuc ˇ an 1992, 240; 242. 177 So lag es an den sechs Granatapfelkernen, die Persephone in der Unterwelt unfreiwillig ass, dass sie einen Drittel des Jahres dort verbringen musste. Jacomet 2003, 210, zu weiteren Konnotationen des Granatapfels. 178 Jacomet 2003, 207f.; 211. 179 Jacomet 2003, 215. 180 Jacomet 2003, 215. 181 Petrucci-Bavaud 1996, 253–259. 182 Kuc ˇ an 1992, 243 (zu Oberaden). 183 Jacomet 2003, 215. 184 Passi Pitcher 1987, 107f. 185 Petrucci-Bavaud u.a. 2000, 151–159. 186 Witteyer 2000, 331. 187 Witteyer 2000, 332. 188 Vgl. oben. 189 Witteyer 2000, 332 | Rasbach 1997, 97 (hauptsächlich Schwein) | Passi Pitcher 1987, 105 ( jedoch ohne Unterscheidung zwischen verbrannten und unverbrannten Tierknochen). 190 D. Noy, Building a Roman Funeral Pyre. Antichthon, Journal Australian Soc. Classical Stud. 34, 2000, 43f. 191 Faber 2001, 318. 169 170 51 Abb. 24: Windisch-«Vision Mitte». Balsamarium in der Urne aus Grab 5 (Inv.-Nr. V.008.2/4010.1 [Balsamarium] und V.008.2/3637.1, V.008.2/3609.1–9 [Urne]). ständig mit ins Grab zu geben192. Es muss folglich von einem selektiven oder zufälligen Auf lesen der Primärbeigaben ausgegangen werden. Das Hauptaugenmerk galt anscheinend den ostentativen Handlungen wie der Auf bahrung, dem Leichenzug sowie der Verbrennung selbst. Was hinterher mit den Primärbeigaben geschah, scheint nicht mehr besonders wichtig gewesen zu sein193. Parallelen bezüglich der primären Beigabenausstattung dieser Gräber finden sich v.a. in den Gräbern von Haltern194. Die Sekundärbeigaben bestehen aus wenig Keramik, Balsamarien und unverbrannten Tierknochen. Eventuell ursprünglich vorhandene pf lanzliche Reste konnten sich nicht erhalten. In je einem Grab fanden sich Münzen, eine Öllampe sowie eine hühnerförmige Terrakotta-Statuette. Die Kombination von einem Schälchen und einem Krug in Grab 8 lässt sich mit entsprechenden Funden in Gräbern Norditaliens195 und des Tessin196 vergleichen. Möglich ist eine Deutung als Geschirrensemble für ein Trankopfer am Grab197, eine Sitte, deren Ursprünge eindeutig im mediterranen Raum liegen198. Die unverbrannten Balsamarien sind im Zusammenhang mit dem Übergiessen des Leichenbrandes mit Duftölen oder Parfüms zu deuten. Besonders eindrücklich ist in diesem Zusammenhang ein Befund in Grab 5, wo sich im Innern der Urne, abgedeckt durch Amphorenscherben, ein unverbranntes Balsamarium auf dem Leichenbrand fand (Abb. 24). Dieser Bestandteil des Totenrituals wird auch in den Schriftquellen199 überliefert und lässt sich zudem in anderen Gräberfeldern in Rom 200 und Norditalien 201, aber auch in den Nordwestprovinzen, wie z.B. in Kempten 202 oder MainzWeisenau203, nachweisen. Bei lediglich einer Bestattung fanden sich Münzen als Sekundärbeigaben. Diese kön52 nen als Charonsmünzen, als Totenopfer oder als Parsprototo-Beigabe gedeutet werden 204. Vergleichbare Befunde sind aus Italien 205 oder aus den Nordwestprovinzen 206 bekannt. In allen Gräbern fanden sich unverbrannte Tierknochen sowie Eierschalen (s. oben). Die Tierknochen stammen mehrheitlich von Schweinen und Hühnern, seltener von Schafen/Ziegen. Bemerkenswerterweise unterscheidet sich das Tierartenspektrum nicht wesentlich von jenem der primären tierischen Beigaben, dies etwa im Gegensatz zum Befund von Mainz-Weisenau, wo ebenfalls Huhn und Schwein unter den primären tierischen Beigaben dominieren, bei den sekundären hingegen Rind, Schaf/Ziege, Pferd und Hund 207. Die unverbrannten Tierknochen müssen demzufolge von Handlungen, die nach der Kremation stattfanden, also von Opfern oder Totenmahlen, den sog. silicernia, stammen (s. oben) 208. Sämtliche Sekundärbeigaben stehen in einem Zusammenhang mit rituellen Handlungen im Zuge der Beisetzung oder Totenehrung. Dies wird gerade im Fall der Balsamarien besonders deutlich. Regelrechte Beigabenensembles wie Geschirrsets, persönliche Gegenstände oder Trachtbestandteile, die dem Verstorbenen als Beigaben für das Jenseits mitgegeben wurden und aus keltisch geprägten Gräbern bekannt sind 209, fehlen hier völlig. Die Gräber sind äusserst beigabenarm und gleichen darin den Stadtrömischen sowie mittel- Fasold 2004, 23. von Hesberg 1998, 24. 194 Berke 2011, 287. 195 Passi Pitcher 1987, z.B. 36 Tomba 50; 45 Tomba 44. 196 C. Simonett, Tessiner Gräberfelder. Monogr. Ur- und Frühgesch. Schweiz 3 (Basel 1941) 45 Grab 3; 47 Grab 5. 197 Witteyer 2000, 333 | Heinzelmann 1998, 46f. 198 Faber 2001, 318. 199 Apuleius, Flores 19 | Ovid, Fast., 3, 561 | Ovid, Trist., 3, 3, 69. 200 von Hesberg 1998, 16 Anm. 18 ein unverbranntes Balsamarium in der Urne der Cornelia Nymphe. 201 Passi Pitcher 1987, 24 Tomba 10. Tomba 44. 202 Faber 2001, 318 | Mackensen 1978, 161. 203 Witteyer 2000, 336. 204 H. Doppler, Die Münzen. In: Hintermann 2000, 87. 205 Rom: von Hesberg 1998, 16 | Ostia: Heinzelmann 1998, 44 | Mittel- und Norditalien: P. Fasold, Romanisierung und Grabbrauch. Überlegungen zum frührömischen Totenkult in Rätien. In: M. Struck (Hrsg.), Römerzeitliche Gräber als Quellen zu Religion, Bevölkerungsstruktur und Sozialgeschichte. Internationale Fachkonverenz vom 18.–20. Febr. 1991 im Institut für Vor- und Frühgeschichte der Johannes-GutenbergUniversität Mainz (Mainz 1993) 384. 206 Mainz-Weisenau: Witteyer 2000, 333; 336 | Kempten: Mackensen 1978, 152f. | Vindonissa, Südfriedhof: Doppler 2000, 88. 207 Witteyer 2000, 332. Bei Pferd und Hund könnte es sich allerdings um Vermischungen mit am Stadtrand abgelagerten Siedlungsabfällen handeln. 208 Vgl. Schrumpf 2006, 88. 209 Vgl. dazu das sog. Testament des Lingonen aus Andemantunum (CIL XIII 5708) | J. Prieur, Le mort dans l’antiquité romaine (Ouest-France 1986) 37f. 192 193 und norditalischen Bestattungen des frühen 1. Jh. Die grössten Bezugspunkte bestehen aber zu den anderen Legionsstandorten in den Nordwestprovinzen. Die besten Übereinstimmungen bieten hierbei die etwas früher zu datierenden Gräber von Haltern. Markant ist die Übereinstimmung der Beigaben mit der Überlieferung in den schriftlichen Quellen. So entsprechen die Funde aus diesen Gräbern etwa dem in den Quellen überliefertem Begiessen des Leichenbrandes mit wohlriechenden Essenzen sowie den Trankopfern und silicernia am Grab. Ein weiterer Aspekt sind die standardisierten Beigaben in den Gräbern, die Zeugnis homogener Totenriten sind und ebenfalls für eine Durchführung der Bestattung in römischer Tradition sprechen. Eventuell kann gerade dies als ein Charakteristikum dieser ersten Phase der römischen Präsenz in den Nordwestprovinzen betrachtet werden. Es zeigt sich darin ein geradezu standardisiertes Durchführen der genuinen Begräbnissitten, das seinen Ursprung womöglich im Bedürfnis nach Abgrenzung von den indigenen Sitten und Gebräuchen haben mag. Der Ref lex also, sich fern der Heimat seiner Identität durch eine penible Einhaltung der eigenen Rituale zu versichern. Damit stellt sich die Frage nach der Identität der Bestatteten. Kombiniert man die Ergebnisse der anthropologischen Untersuchungen mit den archäologischen, archäobotanischen und archäozoologischen Resultaten (s. oben), so lässt sich festhalten, dass in den Gräbern Windisch-«Vision Mitte» acht körperlich robuste, männliche Individuen, ein jugendliches Individuum sowie eine Frau gemäss römischen Totenriten bestattet wurden. Während sich die Männerbestattungen, was ihre Ausstattung anbelangt, relativ homogen präsentieren, hebt sich das Frauengrab (Grab 9) in jeder Hinsicht von den übrigen ab. Hier wurde im grössten aller Grabbezirke eine Frau mittleren Alters mit – im Vergleich zu den übrigen Gräbern – reichen Primär- und Sekundärbeigaben beigesetzt. So stammen die Reste einer Kline, die beiden Weinamphoren, der verbrannte Krug, geschmolzene Balsamarien sowie eine Vielzahl von sowohl verbrannten als auch unverbrannten Schweine- und Hühnerknochen aus dieser Bestattung. Die Tatsache, dass der Leichenbrand aus diesem Grab einen hohen Kalzinierungsgrad aufweist, deutet auf hohe Brenntemperaturen während der Kremation und somit auch auf einen grossen Scheiterhaufen hin. Auch dies ist ein Indiz für den speziellen Status der Grabherrin. Angesichts der im Vergleich mit den Männerbestattungen reichen Beigabenausstattung stellt sich die Frage, ob dieser Unterschied geschlechtsspezifisch zu deuten ist oder vielmehr den Status der Verstorbenen widerspiegelt. Dafür mag der Umstand sprechen, dass von Seiten der Hinterbliebenen ein Interesse bestand, die soziale Stellung mittels eines möglichst auffallenden Begräbnisses zu unterstreichen, da Frauen vom cursus honorum ausgeschlossen waren. Es war demzufolge nicht möglich, den sozialen Status der Verstorbenen etwa durch eine Aufzählung ihrer Ämter und Verdienste auf dem Grabstein hervorzuheben, sodass man dieses Manko durch eine möglichst prächtige Inszenierung der Totenfeiern zu kompensieren suchte. Eine sichere Bestimmung der Identität der Toten ist ohne epigrafische Zeugnisse in Form von Grabinschriften unmöglich 210. Dennoch ist es möglich, anhand der Resultate der interdisziplinären Auswertung gewisse Tendenzen herauszuarbeiten, die zur Klärung dieser Frage beitragen können. Wie gezeigt werden konnte, wurden die Kremationen professionell und nach standardisierten Abläufen durchgeführt. Besonders im Fall der Bestattungen, bei denen die Verstorbenen auf mit Knochenschnitzereien verzierten Klinen eingeäschert wurden, ist von einer bewusst an eine Öffentlichkeit gewandten Inszenierung derselben auszugehen. Die Klinen, die nachweislich in Italien resp. im Mittelmeerraum hergestellt wurden, weisen darüber hinaus auf Bestattungsrituale hin, die sich an jenen der Stadtrömischen Nobilität orientieren. Es lässt sich dadurch ein stark römisch geprägter Personenkreis fassen, wie er zu dieser Zeit in Vindonissa am ehesten in einem militärischen Umfeld zu suchen ist. Darauf deuten auch die Primärbeigaben in Form von Balsamarien als Behälter für kostbare Öle und Parfüme sowie die regelhafte Mitverbrennung von qualitätsvollen pf lanzlichen und tierischen Produkten hin. Diese wurden öffentlichkeitswirksam den Flammen des Scheiterhaufens übergeben. Des Weiteren weist die Homogenität der Primärbeigaben einerseits auf ein identisches Bestattungsritual hin, andererseits scheinen sie teilweise eine symbolische Bedeutung besessen zu haben, die über eine blosse Versorgung der Verstorbenen mit Gütern für das Jenseits und der Selbstdarstellung der Hinterbliebenen hinausgeht. Mit Hilfe der schriftlichen Quellen können anhand der Befunde und Funde Bestattungssitten rekonstruiert werden, die in weiten Teilen den aus Rom und Italien überlieferten Grabbräuchen entsprechen. Die im Vergleich mit den Primärbeigaben geringe Ausstattung der Gräber mit Sekundärbeigaben weist darauf hin, dass das Hauptaugenmerk primär auf den Handlungen im Vorfeld der Kremation lag. Die anschliessende Bestattung in Urnen oder lediglich Gruben steht in einem auffälligen Kontrast zu den vorhergehenden aufwändigen Abläufen und Handlungen. Die Datierung der Gräber ins erste Drittel des 1. Jh. sowie die eindeutigen Analogien der Bestattungen zu römischen Totenritualen machen eine Herkunft der hier Bestatteten aus Italien selbst oder aus zu dieser Zeit bereits stark romanisierten Gebieten wahrscheinlich 211. Dieser Umstand, kombiniert mit den anthropologischen Befunden, macht eine Ansprache dieser Personen als Angehörige der 13. Legion oder 210 211 Witteyer 2000, 324. Witteyer 2000, 320 | Speidel 1996, 46f. Die Grabinschrift (CIL XIII 5206) des Centurio C. Allius Oriens der 13. Legion belegt, dass er aus Dertona (Italien) stammte; jene des M. Voltinia Certus (CIL VIII 5239), dass er aus Vienne (Gallia Narbonensis) kam. Die Schreibtafel Nr. 7 vom Schutthügel legt nahe, dass der Soldat Veranius der 13. Legion aus Vasio (Gallia Narbonensis) stammte (Speidel 1996, 111). 53 als Personen aus deren direktem Umfeld wahrscheinlich. Dass sich das einzige Frauengrab, was Grösse und Qualität sowie Reichtum der Beigaben anbelangt, von den restlichen Bestattungen so deutlich abhebt, mag einerseits mit geschlechtsspezifischen Beigaben- und Bestattungssitten erklärt werden. Es stellt sich aber gerade in diesem Fall die Frage nach dem Status der Frau und dem ihrer nächsten Verwandten. Es kann eine Angehörige einer sozial bessergestellten Bevölkerung vermutet werden, wie etwa die Gattin eines hohen Militärs oder eines Vertreters des militärischen Verwaltungsapparates. Gerade vor diesem Hintergrund überrascht es, dass dieser Teil der Nekropole aufgelassen und spätestens um 45 n.Chr. überbaut wurde. Die Zerstörung dieser letzten Ruhestätten lässt sich einzig durch einen Beschluss von offizieller Seite her erklären – notwendig geworden etwa durch Baumassnahmen, die auf diese Gräber keine Rücksicht mehr nehmen konnten oder wollten. Fasold 2004 P. 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Schucany, Das zivile Quartier westlich des Legionslagers Vindonissa. Die Ausgrabungen Windisch-«Vision Mitte» 2006–2009. Jber. GPV 2011, 47–79 Abb. 5: Zeichnung J. Baerlocher. Speidel 1996 M.A. Speidel, Die römischen Schreibtafeln von Vindonissa. Veröff. GPV 12 (Brugg 1996) Talamo 1987/88 E. Talamo, Un letto funerario da una tomba dell’Esquilino. Bull. Comm. Arch. Roma 92, 1987/88, 17–102 Abb. 3, 4: Foto M. Zinggeler, KAAG. Abb. 6, 7, 8, 9, 10, 24: Foto B. Polyvás, KAAG. Abb. 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17: S. Deschler-Erb. Abb. 18: Foto Ch. Pümpin. Abb. 19, 20, 21, 22: Ö. Akeret. Abb. 23: A. Cueni. 55